Die langen 50er

Von der Staatsgründung bis zu Stalins Tod

Mit der doppelten Staatsgründung der Deutschen Demokratischen Republik auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone (23.5.) und der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen (7.10.) im Jahr 1949 war die deutsche Teilung als ein Ereignis des Kalten Krieges zwischen den USA und der UdSSR mit ihren jeweiligen Verbündeten besiegelt. Damit waren nach dem Zweiten Weltkrieg die Fragen nach nationaler wie kultureller Identität in Ost und West noch einmal neu und anders gestellt. Allem voran brauchten die beiden Staaten eine Nationalhymne, dann einen musikalischen Kanon, musikalische Institutionen und schließlich eine zeitgenössische Musik, die zum jeweiligen Gesellschaftsentwurf passte.

Die Hymne

Während im Westen Konrad Adenauer sich gegen Theodor Heuss und dessen Vorschlag einer neuen Hymne durchsetzen konnte und die Wahl auf die dritte Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben, gesungen auf die Kaiserhymne von Joseph Haydn, fiel, waren im Osten Kompositionsaufträge an Ottmar Gerster und Hanns Eisler ergangen, den Text Auferstanden aus Ruinen von Johannes R. Becher zu vertonen. Eisler konnte sich durchsetzen. Am 7.11. erklang bei einer Feier zum 32. Jahrestag der Oktoberrevolution in der Ausweichspielstätte der Staatsoper im Admiralspalast in der Friedrichstraße erstmals die Hymne und wurde in der Presse abgedruckt. Im Februar 1950 bestimmte die Volkskammer das Lied offiziell zur Nationalhymne der DDR, und im Oktober erhielten Becher und Eisler den Nationalpreis I. Klasse, dotiert mit je 100.000 Mark. Parallel zu diesem zentralen Beitrag zur nationalen Identität schrieben Becher und Eisler mit den Neuen deutschen Volksliedern einen der bleibenden Beiträge zur kulturellen Identität der DDR. Nachdem sich das Liedgut der Nazis diskreditiert hatte und es den Kulturverantwortlichen der DDR nicht opportun erschien, auf die klassenkämpferischen Lieder, welche wesentlich Eisler, Bertolt Brecht, Erich Weinert und Ernst Busch in der Weimarer Zeit geprägt hatten, zurückzugreifen, schufen Becher und Eisler im Sinne einer ‚invented tradition‘ (Hobsbawm/Ranger) einen Liederzyklus, der Lieder über die Heimat und das Vaterland, das Totengedenken, die Bedeutung des Volksliedes, den sozialistischen Wiederaufbau, das Volkseigentum, das Lernen, den Frühling, das Wandern und unter anderen ein Lenin- und zwei Weihnachtslieder enthielt.

Erbeaneignung

Zugleich war das Jahr der deutschen Teilung Goethes 200. Geburtstag, was die Frage aufwarf, welcher der beiden jungen deutschen Staaten legitimer Erbe der Klassik und des Humanismus sei. Wie sehr Hanns Eisler in der Gründungsphase der DDR bereit war, an der Bildung einer ‚sozialistischen Nationalkultur‘ mitzuwirken, verdeutlicht auch sein Betrag zur (hoch)kulturellen Identität in Form seiner Rhapsodie auf Worte des Jubilars zu den Goethefeierlichkeiten in Weimar. Zeitgleich musste Eisler erfahren, dass sowohl seine Beiträge zum klingenden Klassenkampf der Weimarer Zeit, als auch seine Kompositionen aus dem Umfeld der Schönberg-Schule in der DDR nicht willkommen waren. Dem ‚Proletkult‘ und der Musik der klassischen Avantgarden (Schönberg, Strawinsky) zogen die verantwortlichen Funktionäre einen möglichst massenwirksamen Klassizismus vor.

Das Goethejubiläum lässt einen grundsätzlichen Standortvorteil der DDR bei der Klassiker-Pflege und Erbe-Aneignung in Deutschland deutlich werden. Wirkungsstätten von Goethe, Friedrich Schiller, Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried von Herder, Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Heinrich Schütz, um nur die Prominentesten zu nennen, lagen mehrheitlich auf dem Territorium der DDR. Herausragende musikalische Quellen befanden sich in den Bibliotheken von Ost-Berlin, Dresden, Leipzig und Weimar. Dieser Umstand ging einher mit der eigentümlichen kulturpolitischen Vorstellung des mächtigsten Mannes im Staate, Walter Ulbricht, der in der DDR so etwas wie die Staatswerdung der Klassik sah. Pointiert gesprochen, stellten sich die mehrheitlich von den Institutionen der Arbeiterbildung der Weimarer Zeit geprägten Berufsfunktionäre der SED die DDR als eine Art Faust III mit einer Bühnenmusik von Beethoven vor. Entsprechend unverhältnismäßig reagierten sie auf Interpretationen der Klassik und des Erbes, welche ihnen fremd waren. Schönheit war klassizistisches Ebenmaß, die Moderne war der Arbeiterbewegung angeblich fremd.

Formalismuskampagnen

Zeitgleich ließen sich aus der UdSSR Signale vernehmen, gerade die international renommierten Künstler mehr unter die Kontrolle der Einheitsparteien zu bringen. Die Formalismuskampagne, welche Stalin 1948 in der UdSSR inszenieren ließ, um den Komponisten seine Macht zu demonstrieren, fand in der DDR eine Neuinszenierung ab 1949 und traf einige der renommiertesten Künstler der DDR. Brecht und Dessau wurden u.a. wegen ihrer Lukullus-Oper angegriffen, und Eisler geriet wegen seines Textes Johann Faustus, der einmal eine Nationaloper der DDR hätte werden können, in Bedrängnis; sie wurde nie komponiert.

Ziel war es, die Künstler auf den Kurs des so genannten Sozialistischen Realismus zu bringen, um ihr Potential für den Aufbau des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden besser nutzbar zu machen bzw. die Kontrolle über sie zu verstärken. Die Gründung der Deutschen Akademie der Künste (DAK) am 24.3.1958 sowie des Verbandes Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler (VDK) am 1.4.1952 können in diesem Zusammenhang gesehen werden, ohne dass damit ihr emanzipatorisches Potential unterschätzt würde.

Sozialistischer Realismus

Für Komponisten, die aus den unterschiedlichsten Gründen (Karrierebeginn, NS-Vergangenheit, Überzeugung, Opportunismus) bereit waren, und sei es für einige Zeit, diesen Weg zu gehen, taten sich bemerkenswerte Karrierewege sowie Wirkungs- und Verdienstmöglichkeiten auf. Ernst Hermann Meyers Mansfelder Oratorium (1950), Ottmar Gersters Thüringische Symphonie (1949–1952) und sein Oratorium Eisenkombinat Ost sowie Günter Kochans Violinkonzert (beide 1951) galten als Paradebeispiele einer Tonsprache im Sinne des Sozialistischen Realismus.

Doch auch jene Künstler, die sich der DDR in kritischer Loyalität zugewandt hatten, um am Aufbau eines besseren Deutschland mitzuwirken, waren keine Regimegegner, sie hatten lediglich eigenständige und oft wesentlich differenziertere Vorstellungen von einer Kunst für Viele und den sozialistischen Aufbau, gegen Faschismus und Imperialismus sowie für eine bessere Welt. Dabei war den Beteiligten nicht immer klar, dass die kulturpolitischen Debatten der frühen DDR mehrheitlich keine ästhetischen Fragen, sondern Machtfragen verhandelten. So gelangte keiner der kritischen Beiträge zu einer musikalischen bzw. musikdramatischen Auseinandersetzung mit Krieg und Holocaust, welchen Remigranten wie Brecht, Dessau und Eisler aus dem Exil für eine Zeit ‚nach Hitler‘ mitgebracht hatten, zur Aufführung. Die künstlerischen Fragen nach Schuld und Sühne schienen unpassend im Zeichen des Aufbauoptimismus und der Sorge der demokratisch nicht legitimierten SED, den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren. Im Vorfeld der Wiederbewaffnung wurde zudem der Vorwurf des Pazifismus wieder salonfähig – etwa im Zuge der Lukullus-Debatte. Um so eindrucksvoller für die Deutschen nach Weltkrieg und Völkermord gerieten Ereignisse wie die Ostberliner Uraufführung des Antikriegsstückes Mutter Courage und ihre Kinder von Brecht mit der Musik von Dessau am 11.1.1949.

Die 1951 gebildete Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten (StaKuKo) fungierte sehr zum Unmut der Künstler der DDR als Zensurbehörde, während ausgehend vom musikwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität Beiträge zur Legitimierung des musikpolitischen Kurses der DDR erwartet wurden. Dessen maßgeblicher Akteur, der Professor für Musiksoziologie Ernst Hermann Meyer, war dabei das Paradebeispiel einer Persönlichkeit, welche ihre gesamte Kraft in den Aufbau des sozialistischen deutschen Staates investierte und dabei von Konflikten zwischen seinen Rollen als Komponist, Kulturpolitiker und Musikwissenschaftler zerrieben zu werden drohte. Zudem gelang es nicht allen, die in der Nazizeit Unrecht hatten erdulden müssen, selbst beim Aufbau des neuen Staates neues Unrecht zu vermeiden, während gegen remigrierte jüdische Akteure des Musiklebens vereinzelt antisemitische Ressentiments laut wurden.

Der zunehmende Druck der Politik auf die Künste führte zur Entstehung und Stabilisierung von künstlerisch-intellektuellen Nischen wie Walter Felsensteins Komischer Oper (Berlin), Brechts Berliner Ensemble, der Schule Gret Paluccas in Dresden und im Privaten informelle Zirkel etwa in den Häusern von Paul Dessau (Zeuthen bei Berlin) und dem Architekten Werner Henselmann.

Stalins Tod und 17. Juni

Am 3.5.1953, am selben Tag wie Sergei Prokofjew, starb unerwartet Josef Stalin. Machtkämpfe in der Sowjetunion waren zu erwarten und niemand wagte zu diesem Zeitpunkt zu hoffen, dass es Chruschtschow bis zum XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 gelingen sollte, Reformen in der SU einzuleiten. Bis zu einer vorsichtigen Entstalinisierung und einem kurzen Tauwetter sollten noch drei Jahre vergehen. In der Zwischenzeit trieb Ulbricht die Sowjetisierung der DDR im Geiste Stalins vehement weiter.

Der Wiederaufbau stand in der DDR unter deutlich schlechteren Vorzeichen als im Westen. Bezeichnenderweise eskalierte die Lage in Ost-Berlin auf der Baustelle der Stalinallee. Hier sollte parallel zu den kulturellen Leistungen auch wirtschaftlich das von Ulbricht immer wieder beschworene ‚Weltniveau‘ der nach internationaler Anerkennung strebenden DDR unter Beweis gestellt werden. Die Bauarbeiter der klassizistischen Prachtstraße, welche 1949 Stalin zum 70. Geburtstag geschenkt worden war, streikten aufgrund von (zu spät zurückgenommenen) Normerhöhungen, also Verpflichtungen zur Mehrarbeit. Das Gesamtkunstwerk Stalinallee drohte an der Unzufriedenheit der Arbeiter mit dem Arbeiter- und Bauern-Staat zu scheitern. In den Tagen um den 17. Juni 1953 konnte nur ein militärisches Eingreifen der sowjetischen Besatzer den Staatsstreich verhindern. Die Künstler reagierten unterschiedlich: von strikter Systemtreue (KuBa alias Kurt Barthel) bis zu Brechts berühmtem Gedicht Die Lösung, in dem es heißt: „Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?“. Von Eisler oder Dessau sind kleine halbprivate kompositorische Äußerungen zum Volksaufstand überliefert. Die kritischen Mitglieder der Ost-Berliner Akademie der Künste sahen die Stunde gekommen, gegen die Gängelungen der Künstler vor allem seitens der StaKuKo aufzubegehren. Diese wurde im Folgenden abgeschafft und durch ein Ministerium für Kultur mit dem Hoffnungsträger Johannes R. Becher an der Spitze ersetzt, wobei personelle Kontinuitäten zur bisherigen Zensurbehörde nur bedingte Reformen erwarten ließen.

Neben einer modernefeindlichen restriktiven Kulturbürokratie belasteten materielle Probleme des Wiederaufbaus das Musikleben in der DDR. 1952 hatte sich die SED gegen einen dringend benötigten Konzertsaalneubau in Ostberlin entschieden, und die Inbetriebnahme des neuen Standorts des Rundfunks der DDR wurde durch einen Brand im fast fertigen Neubau in der Nalepastraße verzögert, sodass der DDR-Rundfunk weiter auf eine Mitnutzung von Sendeanlagen in der Britisch besetzten Zone angewiesen war.

3,8 Millionen Menschen verließen bis zum Mauerfall die DDR gen Westen. Umgekehrt gingen ca. eine halbe Million Menschen von West nach Ost. Einer von ihnen war der Komponist Reiner Bredemeyer, der 1954, unzufrieden mit dem Musikleben in München, nach Ost-Berlin übersiedelte und sich alsbald dem Kreis um Brecht und Dessau anschloss.

1955 konnte die Staatsoper Unter den Linden wiedereröffnet werden, bezeichnenderweise nicht mit der bei Paul Dessau bestellten Festouvertüre, sondern mit Wagners Meistersingern. Im selben Jahr richtete die Ost-Berliner Musikhochschule den weltweit ersten Studiengang für Musiktheaterregie ein.

Tauwetter

1956 setzte für kurze Zeit ein kulturpolitisches Tauwetter ein. In einer Artikelserie in der Wochenzeitung Sonntag wurde massiv Kritik an der bisherigen restriktiven Musikpolitik unter den Vorzeichen des Sozialistischen Realismus und der Willkür einiger einflussreicher Funktionäre, Kritiker und Musikwissenschaftler laut. Am 14.8.1956 starb unerwartet Brecht. Für Künstler im Allgemeinen und Komponisten im Besonderen, die sich seinem künstlerischen Marxismus, seiner Poetik und Ästhetik verpflichtet gefühlt hatten, bedeutete dies, dass sie ihren eigenen ästhetisch-politischen Standpunkt überprüfen mussten. Laut Heiner Müller war Brecht ein wesentlicher Grund gewesen, sich für die DDR zu entscheiden. Regisseure wie Ruth Berghaus und Komponisten wie Paul Dessau oder Reiner Bredemeyer begannen mit Brecht über diesen hinaus zu denken. Kurt Schwaen hingegen blieb zeitlebens dem Brechtschen Lehrstückgedanken sowie einem didaktischen Grundgestus in seiner Arbeit verpflichtet.

Gegen Ende der 50er Jahre wendete sich teilweise die Kunstpolitik der SED von der Destruktivität der Zensur, Gängelung und Verhinderung in einen proaktiven Kurs. Im April 1959 fand die erste Bitterfelder Konferenz statt. Das Motto dieser großangelegten kulturpolitischen Tagung mit dem Ziel der Schaffung einer ‚sozialistischen Nationalkultur‘ war: „Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht dich!“. Letztlich waren diesem Projekt der ästhetischen Bildung Elemente der musischen Erziehung, aber eben auch Hoffnungen der klassischen Avantgarden im Sinne einer Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Leben, Produktion und Rezeption, der Orte der Kunst und des Alltags etc. eingelagert. War der Hinweis auf die wachsenden kulturellen Bedürfnisse auf der einen Seite dazu angetan, missliebigen Autoren gleichsam die ‚Stimme des Volkes‘ als Korrektiv entgegenzuhalten, führte die Begegnung von Malern, Schriftstellern und Musikern mit interessierten Laien im Einzelfall tatsächlich sowohl zu einer Horizonterweiterung als auch bestenfalls zu einem Horizontausgleich, was dazu führen konnte, dass Arbeiter von Literatur, Kunst und Musik mitgerissen wurden, welche ihnen in den Augen der Kulturbürokratie nicht zuzumuten war. Der Bitterfelder Weg erwies sich absehbar weitenteils als „bitterer Feldweg“ (KuBa), kann aber dennoch als eine Gegenstimme zur ‚Kunst in der Nische‘ verstanden werden, wie sie in allen ‚Arbeiterfestspielen‘ (Halle, Turin, Ruhr) und musikalisch-sozialen Laboratorien vernehmbar ist. Ein solches Experiment stellt auch die Gruppenkomposition Jüdische Chronik dar, welche nach antisemitischen Vorfällen in Westdeutschland von Paul Dessau 1960 initiiert wurde. Auf einen Text von Jens Gerlach und unter teilweiser Verwendung einer Zwölftonreihe von Dessau lieferten Hans Werner Henze, Rudolf Wagner-Régeny, Karl Amadeus Hartmann und Boris Blacher einen einmaligen deutsch-deutschen musikalischen Beitrag gegen das Vergessen in Ost und West. Die Uraufführung konnte, bedingt durch die Verwerfungen des Mauerbaus, erst 1966 in Köln und kurz darauf in Leipzig stattfinden.

Der musikalische Diskurs der 50er-Jahre war, nicht nur in der DDR, geprägt von einem heiligen Ernst, einer Sehnsucht nach Reinheit, nach einem verbindlichen ‚Einheitsstil‘ und einem tiefen Glauben an Fortschritt – fort zumindest von der schuldbeladenen Vergangenheit – in eine ‚neue Zeit‘. Im Westen hieß sie ‚Wirtschaftswunder‘, im Osten ‚Aufbau des Sozialismus‘ durch den ‚neuen Menschen‘.

In der DDR wuchsen den älteren unter den Musikern unter den Vorzeichen des Kalten Krieges eigentümliche Rollen zu. Rudolf Wagner-Régeny wurde gleichsam zum Archivar der Musik des 20. Jahrhunderts, erst in Rostock und dann in Berlin. Er bewahrte für die nachwachsenden Komponisten, die bei ihm Kompositionsunterricht nahmen, die Errungenschaften der Avantgarden auf. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis war nicht selten von respektvoller Ratlosigkeit geprägt. Der „serielle Herr Goldmann“, so Wagner-Régeny in seinem Tagebuch, war seinerseits befremdet sowohl vom Habitus als auch der Esoterik und überbordenden Klangsinnlichkeit der Musik seines Lehrers.

Nur wenige junge Komponisten empfingen Schönbergs Geist aus Eislers Händen, wobei Eisler ohnehin keine Dodekaphonie unterrichtete. Zweifelsohne war er eine Institution im Musikleben der DDR, aber manche der Jüngeren dürften auch wegen seiner staatstragenden Kompositionen eher Distanz zu ihm gehalten haben. Eine Ausnahme war Georg Katzer, der sich zeitlebens als Eisler-Schüler verstand. In dem Maße, wie Eisler sich enttäuscht sah, was seine Wirkungsmöglichkeiten als Komponist und Lehrer in der DDR anging, wandelte er sich zum aphoristischen Theoretiker eines marxistischen Musikdenkens. Seine Gedanken aus dieser Zeit sind in Gesprächsform u.a. im Dialog mit Hans Bunge überliefert. Dessau erwies sich nach den Traumata von Vertreibung, Holocaust, Exil, Remigration und der Formalismusdebatte gleichsam als resilient. Listig und hartnäckig kämpfte er im Geiste Brechts zeitlebens für die Vereinbarkeit von Moderne und Sozialismus. Unermüdlich half er jüngeren Kollegen, wo es ging. Er wurde zum Mentor einer ganzen ‚zweiten Generation‘ von Künstlern in der DDR. Ernst Hermann Meyer förderte seinerseits von ihm geschätzte junge Komponisten, welche, wie Günter Kochan, rückblickend die Ermutigung zu klassizistischen Stiladaptionen des 18. und 19. Jahrhunderts im Zeichen des Sozialistischen Realismus als Sackgasse bedauerten.

Der Komponistenverband bot seinen Mitgliedern zusammen mit einem elaborierten System der Auftragsvergabe ein relativ sicheres Auskommen. Für Instrumentalisten und Sänger stellte sich eher die Frage, ob attraktive Angebote aus dem Westen ein Verlassen der DDR nahelegten. Neben anderen Fachkräften wanderten zusehends Musikerinnen und Musiker ab.

Mauerbau

Dem setzte der Mauerbau im August 1961 ein Ende. Er war, wie Günter Kunert bemerkte, für die Menschen in der DDR eine „Daseinszäsur“, das Sinnbild dafür, dass ohne die Bevölkerung kein Staat zu machen war. Dieser Einsicht setzte Eislers letzte Komposition, seine Ernsten Gesänge (1961–1962), ein Denkmal. Sie erinnern mit dem gleichnamigen Stück an die Hoffnungen nach dem XX. Parteitag und schließen mit Hölderlins Versen: „Viele versuchten umsonst, das Freudigste freudig zu sagen, hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.“

Autor:innen

Zitierempfehlung

Matthias Tischer, Artikel „Die langen 50er“, in: Musikgeschichte Online, hg. von Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer, 2018ff. Stand vom 02.02.2024, online verfügbar unter https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/decades/die-langen-50er, zuletzt abgerufen am 27.04.2024.

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