Beethoven-Rezeption

Zusammenfassung

Ludwig van Beethoven galt in der DDR als Revolutionär, als „Kraftquelle im nationalen Kampf“1Rede des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl anläßlich der Eröffnung der Deutschen Beethoven-Ausstellung in Berlin 22. März 1952, SAPMO-BArch, NY 4090/166, Bl. 289.. Er war nicht nur ein Teil des kulturellen Erbes2Das „Kulturpolitische Wörterbuch“ definiert 1978 „Kulturerbe“ als „die Gesamtheit der der Menschheit von vergangenen Epochen überlieferten Kulturwerte“. Manfred Berger u. a. (Hg.): Kulturpolitisches Wörterbuch, 2. erw. Aufl., Berlin 1978, 386., dessen Pflege erklärtes Staatsziel der DDR war, sondern einer der Eckpfeiler in Alltagskultur und Politik: Otto Grotewohl wies auf die besondere Stellung Beethovens 1952 hin: „Beethoven ist ein Gipfelpunkt der großen deutschen Musiktradition, zu der Meister wie Bach, Händel, Gluck, Haydn und Mozart, Mendelssohn, Schubert, Schumann, Brahms und Wagner gehören.“3Die Rede des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl bei der Eröffnung der Deutschen Beethoven-Ausstellung „Beethoven und seine Zeit“ in den Räumen der Staatlichen Museen in Berlin am 22. März 1952, in: Amt für Information der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Deutsche Demokratische Republik ehrt Beethoven. Ludwig van Beethoven 1770–1827. Deutsche Beethoven-Ehrung 1952, Berlin [1952], 4–7, 7.
Grundlage der Beethoven-Rezeption in der DDR waren die Ergebnisse der marxistisch-leninistischen Musikwissenschaft, die Kompositionen und Schriften Beethovens aus der Perspektive des Frühwerks bzw. der Bonner Zeit (vor dem Hintergrund der Französischen Revolution) betrachteten und bewerteten. Alles, „was nicht in das revolutionäre Beethoven-Bild hineinzupassen schien, wurde beiseite gelassen“.4Harry Goldschmidt: Der späte Beethoven – Versuch einer Standortbestimmung, in: Heinz Alfred Brockhaus und Konrad Niemann (Hg.): Bericht über den internationalen Beethoven-Kongreß 10.–12. Dezember 1970 in Berlin, Berlin 1971, 41–58, 44; zit. n. Matthias Tischer: Ulbrichts Beethoven? Die Konzeption des Beethoven-Jubiläums in der DDR 1970, in: Deutschland-Archiv 41 (2008), 473–480, 479.
Beethovens Werke, vor allem die Neunte Symphonie op. 125, aber auch die Chorfantasie op. 80, bildeten die Kernelemente vieler festlicher Anlässe; die Neunte erstmals am Vorabend der Gründung der SED 1946 – nach Vorbild der Annahme der Stalinistischen Verfassung am 5. Dezember 1936.5Vgl. Zum 125. Todestag Ludwig van Beethovens am 26. März 1952. Stellungnahme des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: MuG 2 (1952), 74. Bezeichnenderweise nahm sie auch am Ende der DDR eine besondere Stellung ein, als Leonard Bernstein am 25. 12. 1989 im Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt die Neunte mit dem Text „Freiheit“ statt „Freude schöner Götterfunken“ singen ließ.

Beethoven-Bild der DDR

Im Gegensatz zur Musikgeschichtsschreibung der Bundesrepublik mit einer deutlichen spätwerkzentrierten Perspektive, fokussierte man sich in der DDR bei der Konzeption eines „von allen reaktionären, antirevolutionären und kosmopolitischen Verfälschungen“6Ernst Krause: Beethoven-Tage, in: Die Weltbühne 7 (1952), 439–442, 441. gereinigten Beethoven-Bildes auf das Frühwerk, auf seine Bonner Zeit, in der er „Vorlesungen des sich offen zur französischen Revolution bekennenden Professor Eulogius Schneider gehört hatte, und [darauf, dass] Beethoven […] stets seinen revolutionären Idealen der Bonner Jugendzeit treu geblieben“7Horst Richter: Beethovens „Neunte Sinfonie“, Programmheft der Staatskapelle Berlin zum Konzert vom 1. 10. 1960. sei.

Ihm wurde Menschenliebe und Naturverbundenheit8Vgl. Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (Hg.): Ludwig van Beethoven. Genius der Nation. Ein Material zur Ausgestaltung von Gedenkfeiern anläßlich seines 125. Todestages am 26. März 1952, Berlin 1952, 8. attestiert, Wissensdurst und politisches Interesse: „In Hinterzimmern von Kneipen nimmt er an republikanisch-jakobinischen Zusammenkünften teil. Mit Begeisterung verfolgt er die Nachrichten von den in ganz Europa sich mehrenden Aufständen, Anzeichen des Widerstandes gegen die Reaktion.“9Georg Krausz: Ludwig van Beethoven – der Lieblingskomponist Lenins, in: Neues Deutschland, 27. 6. 1970, 11.

Bezug genommen wurde auf sein Tagebuch, Briefe und die Konversationshefte, aus denen Auszüge – zum Teil aus ihrem Zusammenhang gerissen – in neue Kontexte überführt wurden. Herangezogen wurden insbesondere Texte, in denen Freiheit thematisiert wurde, z. B. der Eintrag Beethovens in das Stammbuch von Theodora Johanna Vocke aus Nürnberg vom 22. Mai 1793 in Wien, in dem er aus „Don Carlos“ von Friedrich Schiller zitiert: „Wohlthun, wo man kann, Freiheit über alles lieben, Wahrheit nie, auch sogar am Throne nicht verleugnen!“10https://www.beethoven.de/de/g/Lebensweisheiten (24. 11. 2022).

Vor dem Hintergrund der Aneignung Beethovens durch Nationalsozialisten, aber auch der westdeutschen Perspektive auf Leben und Werk des Bonner Komponisten, schien es in der DDR „vor allem auch nötig, […] das überlieferte Beethoven-Bild von allen reaktionären, antirevolutionären und kosmopolitischen Verfälschungen zu reinigen.“11Ernst Krause: Beethoven-Tage, in: Die Weltbühne 7 (1952), 439–442, 441. Das so durch die marxistisch-leninistische Musikwissenschaft zur Geltung kommende Beethovenbild sollte zum vertieften Verständnis der Musik führen.12Georg Knepler postulierte 1961, „daß Beethovens musikalisches Schaffen bis tief hinein in Fragen der musikalischen Technik, der Melodik, der Harmonie, der Form, von der Botschaft seines Werkes geleitet war; ferner, daß diese Botschaft bestimmt war von Beethovens Verständnis für politische Vorgänge“. Ders.: Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1961, Bd. I, 7; zit. n. Lars Klingberg: Artikel „Musikgeschichtsschreibung, marxistische“, in: Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer (Hg.): Musikgeschichte Online, Hamburg 2018 ff., https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/topics/musikgeschichtsschreibung-folgt (1. 12. 2022). Trotz aller Anstrengungen 1952 wurde dies auch noch 1970 von Hansjürgen Schaefer, dem damaligen Chefredakteur der Zeitschrift Musik und Gesellschaft, explizit als Auftrag an die Musikwissenschaft formuliert: „so gehört die gründlichere Untersuchung der Bonner Jugendzeit Beethovens jetzt zu den wichtigsten Aufgaben unserer Beethoven-Forschung.“13Hansjürgen Schaefer: Zeitgenosse unserer Epoche. Zum zweihundertsten Geburtstag Ludwig van Beethovens, in: MuG 20 (1970), 793–797, 794.

 

Die Konversationshefte oder der Fall Krüger-Riebow

Schon vor dem ersten Gedenkjahr 1952 rückte Beethoven in den Fokus von Politik und Musikwissenschaft:14Vgl. dazu: Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 79–105. Während des Krieges wurden im Gegensatz zu vielen anderen Handschriften Beethovens Konversationshefte nicht ausgelagert, weil im Keller des Reichswirtschaftsministeriums von Georg Schünemann an deren Veröffentlichung gearbeitet wurde.15Georg Schünemann (Hg.): Ludwig van Beethoven: Konversationshefte; Bd. 1, Berlin 1941; Bd. 2, Berlin 1942; Bd. 3, Berlin 1943. Nach dem Krieg lagerten die Konversationshefte in der Musikabteilung der Öffentlichen Wissenschaftlichen Bibliothek und wurden am 1. Mai 1951,16Vgl. Martin Hollender: Joachim Krüger alias Dr. Krüger-Riebow: Bücherdieb, Antiquar und Agent im Kalten Krieg, in: Bibliothek (Forschung und Praxis), 30/1 (2006), 69–75, 72. als seine Mitarbeiter zu den Mai-Kundgebungen und sein Stellvertreter Virneisel im Urlaub war,17Vgl. Eveline Bartlitz, Hans Schneider und Ute Schwab: Der Fall Krüger-Riebow in der Erinnerung dreier Zeitzeugen, in: Bibliothek (Forschung und Praxis), 31/1 (2007), 84–89, 85. vom damaligen Leiter der Musikabteilung, Joachim Krüger-Riebow, gestohlen. Am Tag zuvor soll er sich vom Magaziner alle Konversationshefte ins Direktorenzimmer bringen haben lassen. (Bei der Rückgabe handelte es sich immerhin um 20 Pakete.)

Am Flughafen vom Zoll aufgehalten, gab er an, u. a. die Konversationshefte „im Bonner Beethoven-Institut abzugeben“18Josef Schmidt: Der diebische Bücherwurm, in: Süddeutsche Zeitung, 13./14. 2. 1960.. Dort erklärte er, sein Anliegen sei gewesen, sie „aus dem Bibliotheksgebäude zu schaffen und sicherzustellen, um so zu verhindern, daß sie, wie geplant gewesen sei, den Russen übergeben würden.“19Autorisierte Schilderung von Dagmar von Busch-Weise aus dem Interview vom 3. September 2007; zit. n. Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 84. Im Beethoven-Haus wurden sie „treuhänderisch“20Autorisierte Schilderung von Dagmar von Busch-Weise aus dem Interview vom 3. September 2007; zit. n. Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 84. bis zur Rückgabe zehn Jahre später, am 14. Mai 1961, aufbewahrt. Bereits ein Jahr zuvor war Joachim Krüger-Riebow wegen zahlreicher weiterer Diebstähle in Bibliotheken u. a. in Göttingen, Hannover und Wolfenbüttel am 24. 3. 1960 zu 18 Monaten Haft verurteilt worden.

Streitigkeiten über Bibliotheksgut waren in der Zeit keine Ausnahme. An den Modalitäten für die Rückgabe der Konversationshefte, die über mehrere Jahre verhandelt wurden, und der Aufarbeitung des Falls waren neben der Öffentlichen Wissenschaftlichen Bibliothek / Deutschen Staatsbibliothek und dem Beethoven-Haus u. a. das Bundeskriminalamt, das Bundesinnenministerium, das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst, die Volkspolizei, das Ministeriums für Staatssicherheit, die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Magdeburg, das Ministerium für Kultur, das Musikwissenschaftliche Institut der Berliner Humboldt-Universität, das Staatssekretariat für Hoch- und Fachhochschulwesen Abteilung wissenschaftliche Bibliotheken sowie das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen beteiligt. Die Rückgabe selbst wurde dann mit Hilfe der Gesellschaft für Musikforschung und der Akademien der Künste organisiert.

 

Beethoven als gesamtdeutsches Phänomen

Trotz des Ringens um kulturelles Gut wie die Konversationshefte betrachtete man in beiden deutschen Staaten kulturelle Überlieferungen als wesentlichen Teil des gesellschaftlichen Lebens. In der Bundesrepublik wurde diese Erinnerungskultur (individualistisch) als identitätsstiftend oder als Orientierungspunkt für das gegenwärtige Handeln begriffen; in der DDR war sie eher ein staatliches, gesellschaftliches Anliegen, das durch entsprechende Propaganda forciert wurde. Ironischerweise waren es aber ebenfalls Beethoven und sein Werk, was die beiden politischen Systeme verband: Man griff im Februar 1952 auf die neunte Symphonie als gesamtdeutsche Hymne bei den Olympischen Winterspielen in Oslo21Vgl. Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 112. zurück, während gleichzeitig der Bundesrepublik, als angeblicher Beförderin der deutschen Spaltung, ein nationales Gedenken an Komponist und Werk abgesprochen wurde.22Vgl. Adenauer, ein schandebedeckter Separatist (Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 124). Das war eine Notlösung, weil bereits im November 1951 das Abspielen des Deutschlandliedes bei einem Spiel der deutschen Fußballmannschaft in Istanbul zu schweren Verstimmungen des Generalkonsulats geführt hatte. Die Neunte löste damit den Karnevalsschlager Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien ab, mit dem zuvor erfolgreiche deutsche Sportler geehrt wurden.

Das Manuskript der neunten Symphonie befand sich ebenfalls in beiden deutschen Staaten: Die Preußische Staatsbibliothek, die das Manuskript Beethovens aufbewahrte, hatte ab 1941 die kostbaren Bestände an verschiedene Orte ausgelagert, um sie vor einer totalen Zerstörung durch Bomben zu schützen. Nach Kriegsende gelangte dann ein Teil nach Polen und später in die Staatsbibliothek in Ost-Berlin, ein anderer Teil in die Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz nach West-Berlin. Der Riss ging ausgerechnet durch die kontrapunktische Verflechtung der beiden Phrasen „Freude, schöner Götterfunken“ und „Seid umschlungen Millionen“; explizit die Stelle, an der die Alt-Stimmen „Diesen Kuß der ganzen Welt!“ (vierter Satz, Takte 697 bis 700) singen, wurde ‚von der Mauer streng geteilt‘.23Vgl. Karl-Heinz Köhler: … Tochter aus Elysium. Werden und Uraufführung der Neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens und die abenteuerlichen Wege des zerteilten Autographs, hg. von Gunda Köhler-Scharlach, Frankfurt a. M. 2000, 105 f. Dieser symbolische Riss manifestierte sich auch in der Beethoven-Rezeption in den Beethoven-Gedenkjahren 1952, 1970 und 1977. Schon ein Jahr vor dem ersten Beethoven-Jahr stand Beethoven im Mittelpunkt der Weltfestspiele der Jugend. Der Dichter und spätere Kulturminister der DDR Johannes R. Becher verfasste für diese Veranstaltung einen neuen Text zur Chorfantasie op. 80, der fortan in der DDR statt des angeblich von Beethoven abgelehnten Textes von Christoph Kuffner gesungen wurde.

 

Beethoven-Ehrung 1952

Beethoven wurde in der DDR – nach Bach 1950 – spätestens ab 1952, dem Jahr, in dem seines 125. Todestages gedacht wurde, politisch als Legitimationsquelle der eigenen Politik und als Zeuge für das vermeintlich verfehlte ‚kapitalistische‘ Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland und der USA genutzt – eine Darstellung, die bis zur Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte am 1. August 1975 in Helsinki und somit der internationalen Anerkennung der DDR eingesetzt wurde. Gestützt wurde diese Rezeption durch ein Beethoven-Bild, das musikwissenschaftlich aufbereitet wurde und an der „sowjetische[n] Musikwissenschaft und […] sowjetische[n] marxistisch-leninistische[n] Ästhetik“24Festansprache des Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, WILHELM PIECK, zum 125. Todestag Ludwig van Beethovens beim Festakt in der Deutschen Staatsoper Berlin am 26. März 1952, in: Amt für Information der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Deutsche Demokratische Republik ehrt Beethoven. Ludwig van Beethoven 1770–1827. Deutsche Beethoven-Ehrung 1952, Berlin [1952], 9–20, 18. orientiert war. 1974 schrieb Walther Siegmund-Schultze, was auch schon 1952 galt: „Der Auftrag der Musikwissenschaft liegt auch darin, das große Musikerbe von allen reaktionären Verfälschungen zu reinigen, es den Werktätigen zu eigen zu geben. Das ist der Sinn unserer Bach- und Händel-Renaissance, unserer Beethoven- und Mendelssohn-Ehrungen.“25Walther Siegmund-Schultze: Musik und Klassenkampf, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 23/4 (1974), 27–35, 27. Die „Reinigung“ wurde anhand von Briefen, Tagebuchnotizen, Äußerungen aus zeitgenössischen Quellen und – vor allem – anhand der Deutungen seiner Werke vorgenommen26Vgl. Karl Laux: Beethoven in der Gegenwart, in: Sonntag, 23. 3. 1952., um „ein von den Irrtümern der Vergangenheit gereinigtes, ein mit neuen Zügen bereichertes Beethoven-Bild zu schaffen“27O. A.: Berlin im Zeichen der Beethoven-Ehrung. Beginn der Musikwissenschaftlichen Tagung, Tägliche Rundschau, 25. 3. 1952.. Ein Unterfangen, dass in der Bundesrepublik als „Pseudowissenschaft“28Lothar von Balluseck: Beethoven, verdienter Aktivist der Musik: Aus dem Instrumentarium totalitärer Kulturpolitik in der Sowjetzone, Bonn 1952, 14. deklariert wurde, deren Ergebnisse man mit den Methoden im Nationalsozialismus verglich:

„In den Festreden, die über die Reichsrundfunkgesellschaft verbreitet wurden, erschien Beethoven als musikalischer Vorkämpfer des Nationalsozialismus. Die Kulturfunktionäre der Sowjetzone verfahren nach dem gleichen Prinzip, das sie im Sinne ihrer Ideologie, jedoch ungleich konsequenter […] anwenden.“29Lothar von Balluseck: Beethoven, verdienter Aktivist der Musik: Aus dem Instrumentarium totalitärer Kulturpolitik in der Sowjetzone, Bonn 1952, 4.

Die Politisierung Beethovens wurde vollzogen in Publikationen wie „Seid umschlungen Millionen“, die vom Büro des Präsidiums des Nationalrates der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland herausgegeben wurde:

„Adenauer, ein schandebedeckter Separatist und Landesverräter, hat Bonn zum Sitz seiner Regierung gemacht. […] Bonn, die Kriegstreiberzentrale von heute, braucht keinen Beethovensaal. Sie braucht keine klassische Musik, braucht keinen Beethoven. Und wenn sie Beethoven aufführen, so tun sie es nur, um ihre wahren Gedanken zu verbergen.“30Büro des Präsidiums des Nationalrates der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland (Hg.): Seid umschlungen Millionen, Berlin 1952, 8 f.

Dies war kein Einzelfall, wurde doch zum Beispiel in der Täglichen Rundschau vom 26. 3. 1952 eine Erklärung des Beethoven-Ausschusses zur Stalin-Note abgedruckt. Die Reaktion aus der Bundesrepublik war entsprechend:

„Man mag Klassiker mit ideologischen Mittelchen umdeuten, man mag bei Beethoven nachweisen, daß er nur durch reinen Zufall nicht dazu kam, die ‚Internationale‘ zu komponieren, man mag behaupten, was man will – es kommt nicht darauf an. […] Beethoven gehört zwar eher nach Bonn als nach Pankow, aber er gehört keiner politischen Ordnung zu, am wenigsten der von Hammer und Sichel; Beethoven gehört der Welt.“31Lothar von Balluseck: Beethoven, verdienter Aktivist der Musik: Aus dem Instrumentarium totalitärer Kulturpolitik in der Sowjetzone, Bonn 1952, 19.

Gleich zu Beginn der musikwissenschaftlichen Tagung zur Beethoven-Ehrung 1952 in Berlin wurde vom Ordinarius der Musikwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin, Walther Vetter, darauf hingewiesen, „daß die Wissenschaft ein pausenloser Dienst am Volk sei“32O. A.: Berlin im Zeichen der Beethoven-Ehrung. Beginn der Musikwissenschaftlichen Tagung, in: Tägliche Rundschau, 25. 3. 1952., wie u. a. in der Täglichen Rundschau berichtet wurde. Auf derselben Seite der Ausgabe wurde vom „Auftakt mit ‚Egmont‘ und ‚Eroika‘“ [sic] berichtet. Ebenfalls zu finden waren dort Artikel über „Ungarns Beziehungen zu Beethoven und seinem Werk“ und über das „Beethoven-Gedenken in Moskau“, sowie das immer wieder gern bemühte Lenin-Zitat: „Lenin sagte: ‚Ich kenne nichts Besseres als die ‚Appassionata‘ und könnte sie täglich hören. Das ist eine wunderbare, übermenschliche Musik. Immer denke ich mit Stolz, vielleicht mit naivem Stolz: was für Wunderwerke können die Menschen hervorbringen!’“33Max Zimmering: Lenin hört Beethoven, in: Tägliche Rundschau, 25. 3. 1952. Berichte aus anderen sozialistischen Ländern, in denen Beethoven eine betont wichtige Rolle spielt, und der Rückbezug zum Volk bilden hier das Konglomerat, mit dem die Bedeutsamkeit der Beethovenehrung und deren Stellenwert im sozialistischen System dargestellt werden sollte.

Zu dieser Ideologie gehörte auch die Ablehnung der These, Beethoven gelte sowohl als Klassiker wie auch als Romantiker. Hanns Eisler sah keinerlei Kausalität und verortete Beethoven eindeutig als Klassiker:

„Das sicherste scheint mir, den Begriff Romantik von dort zu beziehen, wo er deutlich aufgetreten ist, aus der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bekannt ist die Haupttendenz der Romantik: Flucht, Rückkehr zu mittelalterlichen Stoffen und Ausdrucksformen. Auf dieser Flucht haben die deutschen Romantiker das große Erbe des bürgerlichen Humanismus, die Vernunft, über Bord geworfen. Sie entwickelten dabei einen Stil, in dem Weichliches, Schwebendes, Irreales, Formloses überwiegt. […] So scheint klar, daß es falsch wäre, den Versuch zu machen, Beethoven in die Romantik abzuschieben, denn wo finden wir bei ihm Weichliches, Schwebendes, Irreales, Formloses?“34Hanns Eisler: [Diskussionsbeitrag], in: Musikwissenschaftliche Tagung der Deutschen Beethoven-Ehrung. Fortsetzung der Berichte dieser Tagung, die vom 23. bis 25. März in der Deutschen Akademie der Künste, Berlin, stattgefunden hat, in: MuG 2 (1952), 223 f., 224.

Die Beethoven-Rezeption beschränkte sich in der DDR in den 1950er Jahren nicht allein auf die Beethovenverehrung; vielmehr wurde u. a. auch darauf hingewiesen, dass Beethovens Inspirationsquell das Volksliedgut war; beispielsweise wurde die melodische Struktur des Scherzo-Trios der neunten Sinfonie als der russischen Volksliedpraxis entlehnt identifiziert. Somit sollte Beethovens Œuvre auch als Inspiration für zeitgenössische Komponisten gesehen werden. Ausgangspunkt für diese Diskussion war ein Referat der Hamburger Malerin Edith Schulze-Meister, die den Einfluss Beethovens für zeitgenössische Künstler als begrenzt darstellte.

„Beethoven ist längst historisch geworden, eine Monumentalpersönlichkeit auf dem Museumssockel, die man zuweilen voller Hochachtung entstäubt, den Beethovenkult verständnisvoll aber dem ewig nachzüglerischen Konzertpublikum überlassend. […] Wenn aber auch der Schaden, der dem Werk besonders durch Hermeneutik zugefügt ist, nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, so entspricht doch jenes Bild von dem titanischen Kämpfer, der in gewaltigen Schlußbestätigungen doch am Ende fest auf seinen Beinen steht, nicht unserer heutigen Wirklichkeit.“35Edith Schulze-Meister: Beethoven und der moderne Künstler [Auszug], in: Musikwissenschaftliche Tagung der Deutschen Beethoven-Ehrung. Fortsetzung der Berichte dieser Tagung, die vom 23. bis 25. März in der Deutschen Akademie der Künste, Berlin, stattgefunden hat, in: MuG 2 (1952), 224 f., 224.

Vor allem Georg Knepler kritisierte die Reduzierung Beethovens als Exponent einer vergangenen Epoche ohne Bedeutung für die Gegenwart:

„Völlig abwegig waren in diesem Zusammenhang [Beethoven-Kongreß 1952 in Berlin] die Ausführungen von Frau Dr. Schulze-Meister (Hamburg). Beethoven sei für uns heute eine historische Angelegenheit. Das Reizsame seiner Kunst habe sich abgenutzt – interessant sei nur noch das Interpretationsproblem. Mit Recht bezeichnete Prof. Knepler dies Referat höchstens als Spiegelbild einer ausweglosen westlichen Gesellschaft die zwischen ‚Beethoven und dem modernen Künstler‘ eine Scheidewand errichtet.“36Ernst Krause: Beethoven-Tage, in: Die Weltbühne 7 (1952), 439–442.

Auch für zeitgenössische Komponist:innen sollte Beethoven in der DDR als Wegweiser für die Entwicklung der ‚neuen‘ sozialistischen Epoche dienen.

In der DDR führte man teleologisch die Ideen der (Französischen Revolution und der) Wiener Klassik in die sozialistische Epoche weiter. Als Wegweiser für die Entwicklung der sozialistischen Epoche sollte Beethoven auch der allgemeinen Bevölkerung näher gebracht werden: Die zahlreichen Konzerte sollten durch Einführungen flankiert werden, in denen aus „offizielle[…, m] Material“37Auch im Folgenden: SAPMO-BArch, DR 1/6144. zitiert werden sollte, damit „die Bevölkerung mit den charakteristischen Werken Beethovens bekanntgemacht werden“ konnte. Ein Unterfangen, das 1952 nicht überall mit Erfolg abgeschlossen werden konnte, denn die Realität des allgemeinen verordneten Gedenkens sah anders aus:

„Dieser Bericht [an die Kulturdirektion des Eisenhüttenkombinats Ost in Fürstenberg (Oder) vom 19. März 1952] wird, fürchte ich, sehr kritisch sein müssen, denn die Feier war alles eher als gelungen. […] wir kamen wenige Minuten vor der festgesetzten Zeit pünktlich in Ihrem prächtigen Kultursaal an und fanden ihn leer. Im Laufe der nächsten 20–30 Minuten kamen insgesamt 20 Personen. Bei näherer Befragung der Anwesenden nach Schluß der Feier stellte sich heraus, daß mindestens 12 davon nicht Werksangehörige waren, sondern Schüler der Oberschule von Fürstenberg. […] Es waren also nicht mehr als etwa 6–8 Mitglieder von den 9000 Arbeitern des EKO bei dieser Beethoven-Feier, die doch mit großem Aufwand unternommen wurde, zugegen.“38SAPMO-BArch DY 34/11–53a–1626.

 

Beethoven-Ehrung 1970

Obwohl das marxistisch-leninistische Beethoven-Bild bereits 1952 vorgestellt worden war, wurde die marxistische Musikwissenschaft auch 1970 von Heinz Alfred Brockhaus39Vgl. Lars Klingberg: IMS „John“ und Schostakowitsch. Zur Stasi-Karriere von Heinz Alfred Brockhaus, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa, Heft 7 (2000), 82–116; online unter https://ul.qucosa.de/api/qucosa%3A15721/attachment/ATT-0/ (1. 12. 2022). aufgefordert, Beweise für die Verortung Beethovens im politisch-ästhetischen Kanon des kulturellen Erbes zu liefern:

„Die marxistisch-leninistische Musikgeschichtsforschung wird den Beweis antreten, daß die Wandlungen des Beethoven-Bildes in Geschichte und Gegenwart strikt einzuordnen sind in die Klassenauseinandersetzungen, denn die Beziehungen zum klassischen Erbe sind – besonders in unserer Zeit – keine abstrakten Fragen, die sich aus einer Evolution des musikalischen Materials ablesen ließen, sondern Ausdruck politisch-ideologischer und ästhetischer Beziehungen zur klassischen Kunst.“40Heinz Alfred Brockhaus: Aufgaben und Ziele des Internationalen Beethoven-Kongresses der DDR, in: MuG 20 (1970), 317 f., 317.

Während nach dem Zweiten Weltkrieg die Bewahrung des kulturellen Erbes und eine mögliche Wiedervereinigung der deutschen Staaten (Stichwort: Stalin-Note) im Fokus des Beethoven-Gedenkens stand, „wurde 1970 anhand von Leben und Werk Ludwig van Beethovens der Anspruch auf eine eigene Kultur der DDR betont.“41Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009 (= KlangZeiten 6), 227. Ziel war es, auch im Beethoven-Jahr 1970

„gegenüber dem Ausland darzulegen, daß in der DDR das Erbe Beethovens angetreten wurde und das humanistische Gedankengut seines Werkes gepflegt und in der sozialistischen Nationalkultur aufbewahrt wird. Es ist dabei den Bemühungen der westdeutschen auswärtigen Kulturpolitik entgegenzutreten, die im Sinne der westdeutschen Alleinvertretungsanmaßung das Werk Beethovens für die imperialistische Außenpolitik Westdeutschlands mißbrauchen will.“42Vorlage an das Politbüro des ZK der SED vom 11. 7. 1969. Betrifft: Beschluß über die Beethoven-Ehrung der DDR 1970, Anlage I. Konzeption für die Beethoven Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik 1970, AdK, ZAA, 792, Sitzungen der Sektion Musik 1969, 1; zit. n. Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009 (= KlangZeiten 6), 234.

Trotz der vorsichtigen politischen Annäherung, dem ersten deutsch-deutschen Treffen zwischen dem DDR-Ministerpräsident Willi Stoph und Bundeskanzler Willy Brandt am 19. März 1970 in Erfurt und dem Gegenbesuch am 21. Mai in Kassel, blieb Beethoven eine der Konstanten im Ringen um die politische Deutungshoheit. Das Beethoven-Bild in der DDR blieb beständig das eines Repräsentanten eines aufstrebenden Bürgertums in dem durch die Französische Revolution geprägten Zeitalter, dessen Musik als Teil des Klassenkampfs zu sehen und hören war. Neu in der wechselseitigen Polemik war der Verweis auf die ideologische „Heimat“43Überarbeitetes Schlußwort von Prof. Dr. Paul Michel auf der Beethoven-Konferenz des Deutschen Kulturbundes am 31. 10. und 1. 11. 1969 in Potsdam, SAPMO-BArch, DY 27/3088. des Komponisten:

„Die das Werk Beethovens als kostbaren Schatz integrierende sozialistische Nationalkultur ist eben der Kulturdemontage in der Bundesrepublik um eine ganze historische Epoche voraus. Nirgendwo anders sind daher auf deutschem Boden die gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben als geistige Heimat [Hervorhebung durch die Verfasserin] Beethovens zu gelten als in der DDR, dem antiimperialistischen deutschen Friedensstaat, der den Sozialismus vollendet.“44Überarbeitetes Schlußwort von Prof. Dr. Paul Michel auf der Beethoven-Konferenz des Deutschen Kulturbundes am 31. 10. und 1. 11. 1969 in Potsdam, SAPMO-BArch, DY 27/3088.

Auf einer Beethoven-Konferenz des Deutschen Kulturbundes am 31. 10. und 1. 11. 1969 in Potsdam war das Gedenken propagandistisch vorgegeben worden. Das überarbeitete Schlusswort von Professor Dr. Paul Michel gab die Leitlinie vor, unter der das Beethoven-Gedenken 1970 stand:

„Der imperialistische Bonner Staat, der Beethovens Geburtstag nur allzu gern für sich in Anspruch nehmen wird, um seine historisch überholte, spätbürgerliche Existenz mit der Aura Beethovens zu vergolden, hat keinerlei Anspruch, das Vermächtnis Beethovens anzutreten. Der Bonner Staat der Monopolisten, Tummelplatz des Neonazismus und des Revanchismus, ist das Ergebnis imperialistischer Restauration mit seiner Bildungsmisere und seiner Verachtung der Volksmassen, seiner einzigen Zurücknahme des ‚Guten und Edlen, um das die Menschen gekämpft haben‘. Er steht so mit seiner Notstandspraxis und seinem Alleinvertretungsanspruch, mit seinem Streben nach Atomwaffen und seiner psychologischen Kriegsführung auch im krassen Widerspruch zu Beethovens Ideenwelt, wie er sie zum Beispiel mit der Vertonung von Schillers ‚Ode an die Freude‘ in seiner Neunten Symphonie zum weltumfassenden Sinnbild der Verbrüderung der Menschheit werden ließ. Dem Bonner Staat wird natürlich auch Beethoven im Beethovenjahr 1970 als vergoldendes Feigenblatt zum Verdecken der Kulturreaktion herhalten müssen. Beethovens Werk und das Gedankengut stehen diametral der Weltanschauung und Ideologie des westdeutschen imperialistischen Staates gegenüber. Zwischen der Beethoven-Pflege und -rezeption in unserem sozialistischen Staat und in der staatsmonopolistischen Bundesrepublik wirft sich eine unüberbrückbare Kluft auf, weil zwei objektiv bestehende, historisch unterschiedliche Epochen in beiden deutschen Staaten notwendigerweise ein ganz divergierendes Verhältnis zu Beethovens Werk bedingen. Die das Werk Beethovens als kostbaren Schatz integrierende sozialistische Nationalkultur ist eben der Kulturdemontage in der Bundesrepublik um eine ganze historische Epoche voraus. Nirgendwo anders sind daher auf deutschem Boden die gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben als geistige Heimat [Hervorhebung durch die Verfasserin] Beethovens zu gelten als in der DDR, dem antiimperialistischen deutschen Friedensstaat, der den Sozialismus vollendet.“45Überarbeitetes Schlußwort von Prof. Dr. Paul Michel auf der Beethoven-Konferenz des Deutschen Kulturbundes am 31. 10. und 1. 11. 1969 in Potsdam, SAPMO-BArch, DY 27/3088.

Die bundesrepublikanische Reaktion auf derartige politische Inanspruchnahme blieb den Medien überlassen:

„Eine Staatsform, welche Freiheit und Menschenwürde mit Füssen tritt, Andersdenkende und Religiöse verfolgt und sogar erschießt [sic], wenn sie der geistigen Tyrannei des totalitären Staates zu entfliehen suchen, eine solche Staatsform hat wahrlich kein Recht, Beethoven als einen der Ihren zu feiern.“46Willy Hess: Eine Beethoven-Fälschung in der DDR, in: Der Republikaner, 21. 5. 1976.

Auch mehr als 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, einer Zeit, in der die wissenschaftliche Aufarbeitung der deutschen Teilung längst nicht mehr in den Kinderschuhen steckt, scheint die journalistische Rhetorik überlebt zu haben: Der Südwestrundfunk bietet im Archiv die Rede des Ministerpräsidenten Willi Stoph aus dem Jahr 1970 unter dem Titel „DDR feiert Beethoven als Sozialisten“47Auch im Folgenden: https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/ddr-feiert-beethoven-als-sozialisten-1970-100.html (1. 12. 2022). an. Im Kommentar dazu steht: „Ministerpräsident Willi Stoph spricht vor der versammelten SED-Prominenz und erklärt, warum die DDR stolz auf Beethoven ist.“ Jene Rede Stophs basiert auf dem o. g. Schlusswort von Paul Michel, in der (ähnlich wie 1952) teleologisch die Inanspruchnahme Beethovens durch die DDR interpretiert wird:

„Wir würdigen Beethoven in dem Bewußtsein, daß er in unserem Arbeiter- und Bauernstaat seine wahre Heimstätte gefunden hat. Sein Leben und Schaffen stand immer in einer engen Beziehung zum gesellschaftlichen Geschehen seiner Zeit. Diese Aufgeschlossenheit verbindet sich in ihm mit einer genialen künstlerischen Schöpferkraft zu einer Größe, die uns in ihrer ungebrochenen Wirkung unmittelbar berührt. Beethoven ging es um die hohen Ideale der Menschheit und ihre Verwirklichung, um ihre Weiterentwicklung im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts. Darum steht er uns auch heute so nahe. Darum haben wir in unserem sozialistischen deutschen Nationalstaat, in dem wir die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt haben, das Recht, ihn für uns in Anspruch zu nehmen. […] Wo immer und unter welchen politischen Verhältnissen er auch in späteren Jahren lebte und wirkte, immer waren in ihm die Gedanken der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit lebendig, fühlte er sich zutiefst verbunden mit den Ideen der Aufklärung, der Demokratie und des Humanismus. […] Er hat in seinen Tonschöpfungen Ideen musikalisch gestaltet, die erst durch den siegreichen Kampf der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten in der sozialistischen Gesellschaftsordnung Wirklichkeit geworden sind. […] Auch der Entwicklungsaufbau seiner Musik, die Darstellung des Konflikthaften, der Kampf der Widersprüche – sind Merkmale seines Schaffens, die in einer übertragenen Weise Sinnbild des Kampfes der gesellschaftlichen Kräfte sind.“48Hervorhebung in der Diktion, transkribiert nach: DDR feiert Beethoven als Sozialisten, https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/ddr-feiert-beethoven-als-sozialisten-1970-100.html (23. 11. 2022).

Das kollektive Beethoven-Gedenken in der DDR war mindestens genauso minutiös, wenn nicht gar akribischer, als das des Jahres 1952 vorbereitet worden.49Vgl. dazu Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009 (= KlangZeiten 6), 227–239, und ders.: Ulbrichts Beethoven? Die Konzeption des Beethoven-Jubiläums in der DDR 1970, in: Deutschland-Archiv 41 (2008), 473–480. „Zum Geburtstag sollen die Orchester der DDR die Eroica und zu den Jahreswechseln die 9. Sinfonie spielen.“50Vorlage an das Politbüro des ZK der SED vom 11. 7. 1969. Betrifft: Beschluß über die Beethoven-Ehrung der DDR 1970, Anlage I. Konzeption für die Beethoven Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik 1970, AdK, ZAA, 792, Sitzungen der Sektion Musik 1969, 8; zit. n. Matthias Tischer: Ulbrichts Beethoven? Die Konzeption des Beethoven-Jubiläums in der DDR 1970, in: Deutschland-Archiv 41 (2008), 473–480, 477. Schon vier Monate vor der Beethoven-Konferenz im November 1969 hieß es in der Vorlage an das Politbüro des ZK der SED:

„Von einer wirklichen Beethovenpflege kann nur die Rede sein, wenn sie nicht den Weg des geringsten Widerstandes geht, wenn eine geistige Aneignung und künstlerische Durchdringung Beethovens durch die Interpreten erfolgt. Das Beethoven-Jahr 1970 muß den Auftakt dazu bilden, den ganzen Beethoven unserem Musikleben zu erschließen.“51Vorlage an das Politbüro des ZK der SED vom 11. 7. 1969. Betrifft: Beschluß über die Beethoven-Ehrung der DDR 1970, Anlage I. Konzeption für die Beethoven Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik 1970, AdK, ZAA 792, Sitzungen der Sektion Musik 1969, 8; zit. n. Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009 (= KlangZeiten 6), 233.

Man schaute verachtend auf die kommerzielle Vermarktung Beethovens in der Bundesrepublik, wo Preisausschreiben und Devotionalien wie die staatliche Münze mit Beethovens Kopf in Gold Hochkonjunktur hatten und kritisierte „das in der Bundesrepublik manipulierte Beethoven-Bild“52Willi Stoph: Wenn sich Geist und Kraft vereinen. Rede des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, in: Neues Deutschland, 28./29. 3. 1970, 6. als „völlig einseitig […], weil es die demokratisch-revolutionären Gedanken Beethovens, die in seiner Musik unüberhörbar sind, bewußt ausklammert“.

In Bonn beging man ein Beethovenfest, das insgesamt 1,3 Millionen Mark kostete.53Vgl. Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 132. Demgegenüber stand ein Volumen von 800.000 Mark in der DDR.54Vgl. Matthias Tischer: Ulbrichts Beethoven? Die Konzeption des Beethoven-Jubiläums in der DDR 1970, in: Deutschland-Archiv 41 (2008), 473–480, 475. Das Auswärtige Amt der Bundesrepublik verschickte zehn Tonnen Beethoven-Devotionalien nach England und Schweden und in allen Goethe-Instituten der Welt konnten Besucher kleinere Ausstellungen rund um den Genius besuchen. Der spanische Sänger Miguel Rios schaffte es, seinen Song of Joy über 24 Wochen in der deutschen Hitparade zu platzieren, davon sogar sieben Wochen lang auf Platz eins. Die Deutsche Grammophon Gesellschaft verkaufte ihre Beethoven-Edition in der ganzen Welt (75 Langspielplatten für 975 Mark), unterlag aber in diesem ‚Wettrüsten‘ der DDR, weil der VEB Deutsche Schallplatten 80 Beethoven-LP auf den Markt brachte.

Unter den vielen musikalischen Rezeptionsansätzen im Beethoven-Jahr 1970 findet sich in der DDR im Rahmen des 200. Beethoven-Jubiläums das Auftragswerk des damals 40-jährigen Ostberliner Komponisten Reiner Bredemeyer Bagatellen für B.55Bredemeyer – Bagatellen für B., https://www.youtube.com/watch?v=UMq1oE7pjkY (1. 12. 2022)., eine Collage aus Beethoven-Zitaten für Orchester und Klavier: „Verarbeitet werden die ersten beiden Akkorde der Eroica, die Klavier-Bagatellen op. 119 Nr. 3 und op. 126 Nr. 2 sowie beliebige ‚Beethoven-Rhythmen‘, die am Ende von allen Instrumenten, gleichsam als ‚Einstimmung‘, auf dem Ton b […] intoniert werden.“56Nina Noeske: Musik in der DDR: Historiographische Perspektiven jenseits des Dualismus von Macht und Freiheit, https://ninanoeske.de/data/documents/MusikDDR-Noeske_Schriftfassung.pdf (1. 12. 2022). ‚Imperialistische‘ musikalische Rezeptionsansätze wie Opus ’70 von Karlheinz Stockhausen57https://www.youtube.com/watch?v=mB9l_RxByoA (1. 12. 2022). oder Ludwig van von Mauricio Kagel58https://www.youtube.com/watch?v=tVEKKBlmwd4 (1. 12. 2022). oder der auch in der auch in der Bundesrepublik umstrittene Song of Joy von Miguel Rios59https://www.youtube.com/watch?v=Gxio54dWfX4 (1. 12. 2022). wurden rundheraus abgelehnt und als Beispiele für die „profitintensive Nutzung und Anpassung des Kulturerbes an den manipulierten Geschmack der Massen“60Peter Pachnicke: Beethoven als Ware. Geschäft mit der Klassik, in: Sonntag 25/50 (1970), 5. klassifiziert.

 

Beethoven-Ehrung 1977

Wie auch schon 1952 und 1970 begann man in der DDR frühzeitig, das nächste Beethoven-Jahr vorzubereiten. In der Woche vom 20. bis 27. März 1977 fanden zahlreiche Konzerte, u. a. mit dem Gewandhausorchester Leipzig sowie den Staatskapellen aus Berlin und Dresden statt, in denen nicht nur die ‚Klassiker des Klassikers‘, sondern auch Werke ohne Opuszahl (WoO) aufgeführt wurden. Ebenfalls in dieser Woche fand im Plenarsaal der Volkskammer der „viertägige Internationale Beethoven-Kongreß“61Auch im Folgenden: Sieghard Brandenburg: Internationaler Beethoven-Kongreß vom 20. bis 23. März 1977 in Berlin, in: Die Musikforschung 30 (1977), 512–515, 512. statt. Allerdings konnten aufgrund der vielen Anstrengungen in den vorangegangenen Gedenkjahren kaum neue Erkenntnisse präsentiert werden. In den Fokus wurden daher die Ergebnisse der marxistischen Musikwissenschaft gerückt, die ab 1964 im VEB Deutscher Verlag für Musik (Leipzig) erschienen. Diskutiert wurde erneut über die „Klassenzugehörigkeit“ Beethovens – vor allem in Hinblick auf die These Maynard Solomons, „Beethoven habe sich dem Adel des aufgeklärten Absolutismus zugehörig gefühlt und habe dies auch lange Zeit nach außen hin zu behaupten gewußt. Die flämische Form seines Namens sei ihm dabei zu Hilfe gekommen.“ Sieghard Brandenburg resümierte: „Mit dieser Ansicht stieß Solomon beinahe zwangsläufig auf den Widerspruch seiner marxistisch orientierten Gesprächspartner.“ Auch in dem zweiten, teilenden Aspekt musikwissenschaftlicher Aufarbeitung blieben die Fronten verhärtet. Harry Goldschmidt wandte sich

„gegen die verbreitete Ansicht von der Ungleichwertigkeit und Unvereinbarkeit von Kunst und Leben. Die allgemein anerkannte Subjektivität des Komponisten Beethoven sei nicht ohne den entsprechenden biographischen Hintergrund und ohne die geschichtliche Rolle des Subjekts Beethoven denkbar.“62Sieghard Brandenburg: Internationaler Beethoven-Kongreß vom 20. bis 23. März 1977 in Berlin, in: Die Musikforschung 30 (1977), 512–515, 514.

Eine Ansicht, die man in der Bundesrepublik nicht teilte. Dagegen wusste man die neuen Ansätze Günter Mayers durchaus zu schätzen:

„Auf der Grundlage der marxistischen Anschauung, daß Kunst zugleich als eine besondere Form des gesellschaftlichen Bewußtseins und als besondere Weise der Produktion zu begreifen sei, daß Kunst für den spezifischen kommunikativen Gebrauch entstehe und nur in diesem als Kunst existiere, stellte Günter Mayer im Round-table Personalstil, Materialstand und ideologische Dimension [von] Beethovens Musik und ihren Stil als die Durchsetzung der von ihm subjektiv ergriffenen geschichtlichen Aufgabe seiner Epoche dar. Das Referat ist als der gelungene Versuch zu werten, sich von der ‚vulgär-marxistischen‘ simplen Theorie der Widerspiegelung einzelner biographischer und historischer Ereignisse in der Musik abzuheben und das Thema von einem höheren Niveau anzugehen, mögen auch die vorgebrachten Thesen und Sichtweisen nicht jedermann überzeugen.“63Sieghard Brandenburg: Internationaler Beethoven-Kongreß vom 20. bis 23. März 1977 in Berlin, in: Die Musikforschung 30 (1977), 512–515, 513.

Besondere Aufmerksamkeit richtete sich auf die Ergebnisse der quellenkritischen Forschung, in deren Rahmen u. a. Grita Herre und Dagmar Beck die Fälschungen Anton Schindlers in den Konversationsheften aufgedeckt haben.

Von den Ergebnissen des musikwissenschaftlichen Kongresses wurde zwar berichtet, das zentrale Anliegen des Beethoven-Gedenkens war aber wieder eine gesamtgesellschaftliche Veranstaltung, an der auch die Gewerkschaften beteiligt waren:

„1. Anläßlich der Beethoven-Ehrung der DDR im Jahre 1977 stellen sich die Gewerkschaften die Aufgabe, die Persönlichkeit und das Wirken des großen Komponisten, den Werktätigen, besonders der Arbeiterklasse, bekannt zu machen und die Kenntnisse des umfangreichen Werkes Beethovens besonders in der Arbeiterjugend zu vertiefen. […]
2. Die Gewerkschaftsleitungen […] unterstützen vor allem die Gewerkschaftsgruppen bei der Organisierung von Vorträgen, Konzertbesuchen, Konzerteinführungen und Musikdiskussionen und sorgen dafür, daß in den Kultur- und Bildungsplänen und in den Plänen zur Entwicklung des geistig-kulturellen Lebens der Betriebe geeignete Aufgaben festgelegt werden. […] Besonders zu fördern sind Arbeiterjugendkonzerte.
3. Die gewerkschaftlichen Leitungen nehmen darauf Einfluß, daß die Musik Beethovens im Repertoire der Orchester und Chöre einen gebührenden Platz findet und in Veranstaltungen der Orchester, Musikgruppen und Chöre zur Aufführung gelangt.“64SAPMO-BArch, DY 34/25318.

Im Mittelpunkt aller Bestrebungen stand wieder, auf Beethovens Leben und Werk ausführlich aufmerksam zu machen: In der Staatsbibliothek wurde aus dem Fundus von der Musikabteilung eine Ausstellung zusammengestellt.65Vgl. O. A.: Autographe von der Hand des großen Meisters, in: Neue Zeit, 26. 3. 1977. Dem Rundfunk wurde der Auftrag erteilt, eine ‚volksverbundene Beethovenaneignung‘ durch populärwissenschaftliche Sendungen, Werkeinführungen und andere Beiträge zu ermöglichen.66Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/58126. Selbst im Bauern-Echo, der Tageszeitung der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands in der DDR, wurden die Erkenntnisse der marxistischen Musikwissenschaft verbreitet – einschließlich der Wiederholung des o. g. Stammbucheintrags von Theodora Johanna Vocke aus Nürnberg vom 22. Mai 1793:

„Das schicksalschwere Ringen in der 5. Sinfonie, der freudig-revolutionäre Elan der 7. Sinfonie, die programmatische ‚Egmont‘-Ouvertüre mit den überwältigenden Siegesfanfaren und schließlich die weltumspannende Freudenbotschaft der 9. Sinfonie sind alles Varianten dieses Grundgedankens, den Beethoven auch einmal in die Worte faßte: ‚Wohltun, wo man kann! Freiheit über alles lieben! Wahrheit … nie verleugnen!‘“67H. Heilbronner: Seine Musik lebt in den Herzen unseres Volkes, in: Bauern-Echo, 26. 3. 1977.

Schon 1952 war in Der freie Bauer neben agrarfachlichen Artikeln (Tipps zur Ferkelproduktion) dargelegt worden, dass Beethoven „den Bauern Stunden der Erbauung und Freude bereitet[e]“68GS: Künder von Frieden und Freiheit, in: Der freie Bauer 7/13 (1952), 11. Daher waren diese propagandistischen Ausführungen wohl auch für die Rezipienten keine neue Entdeckung. Der Bericht der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin über die Ehrung der DDR fiel auch eher sachlich aus:

„der 150. todestag ludwig van beethovens am 26. 3. 1977 wird fuer die ddr anlasz zu vielfaeltigen und bedeutenden veranstaltungen sein, die die pflege des ‚humanistischen erbes‘ in der ddr deutlich machen und den sozialistischen staat als den eigentlichen bewahrer des ueberkommenden kulturgutes ausweisen sollen. damit wird die richtung gewiesen, die fuer die kulturpolitischen aktivitaeten der ddr im zusammenhang mit dem beethoven-jahr nicht nur hier, sondern auch im ausland zu erwarten ist: die ddr wird sich erneut als derjenige deutsche staat praesentieren wollen, in dessen sozialistischer gesellschaft die hohen ideale der groszen humanisten verwirklicht worden sind.“69BArch, B 106/59580.

Im Gegensatz zu dem kläglich besuchten Konzert des Eisenhüttenkombinats Ost in Fürstenberg (Oder) 1952 hatte sich aber über die Jahre eine Konzerttradition herausgebildet, die plakativ immer wieder beworben wurde – wie die Silvesterkonzerte:70Zeitungsausschnitt: Leipziger Volkszeitung, 2. 1. 1972.

Zeitungsausschnitt: Kunsterlebnis am Jahreswechsel: Beethovens ‚Neunte‘, in: Leipziger Volkszeitung, 2.1.1972

Im Beethoven-Jahr 1977 stand bei vielen Werkskonzerten Beethoven auf dem Programm:

„Das Gewandhausorchester Leipzig führt […] für die Betriebsangehörigen des Grafischen Großbetriebes Offizin ‚Andersen Nexö‘ in Leipzig und des Chemiekombinats ‚Otto Grotewohl‘ Böhlen die 9. Sinfonie auf. Das 29. Bauarbeiterkonzert mit dem Berliner Sinfonieorchester hat drei bedeutende Kompositionen Beethovens im Programm.“71O. A.: Für ein lebendiges Beethoven-Bild, in: Tribüne, 25. 3. 1977.

Sinnbildlich wurde die gesamtgesellschaftliche Übernahme Beethovens in die DDR in dem DEFA-Spielfilm Beethoven – Tage aus einem Leben von Horst Seemann, in dem der Komponist 1976 folgerichtig aus Wien aus- und in Ost-Berlin einzog: siehe ab 1:41:26.

Die Anfeindungen gegen die Bundesrepublik hielten sich 1977 (im Gegensatz zu 1952 und 1970) in Grenzen, man übte indes weiterhin Kritik an der Kommerzialisierung Beethovens. Allerdings wurde das Unverständnis für die marxistische Beethoven-Deutung nun in der Bundesrepublik deutlich zum Ausdruck gebracht, wie von Peter Boenisch, damals Chefredakteur der Bild am Sonntag und später Regierungssprecher von Helmut Kohl:

„‚Alle Menschen werden Brüder‘. Hoffte Beethoven im vorigen Jahrhundert. Alle Deutschen sind Brüder. Hofften wir in diesem Jahrhundert. Brüder? Manchmal ergeht es einem in der deutschen Nation wie in einer guten deutschen Familie: Der eigene Bruder ist einem fremder als ein Fremder. […] Beethoven, das Genie mit menschlichen Schwächen hoffte gemeinsam mit Schiller: ‚Alle Menschen werden Brüder!‘ Es tut mir leid, Genossen, aber: ‚Alle Menschen werden Genossen‘, war damit nicht gemeint. In der letzten Strophe der Neunten heißt es: ‚Brüder, überm Sternenzelt Muß ein lieber Vater wohnen. Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt? Such ihn überm Sternenzelt. Über Sternen muß er wohnen. Über Sternen. Nicht unter dem Stern. Schon gar nicht unter dem roten Stern.“72Peter Boenisch: Armer Beethoven, in: Bild am Sonntag, 10. 4. 1977.

Ganz ähnlich äußerte sich Willy Hess in Der Republikaner:

„Eine Staatsform, welche Freiheit und Menschenwürde mit Füssen tritt, Andersdenkende und Religiöse verfolgt und sogar erschiesst [sic!], wenn sie der geistigen Tyrannei des totalitären Staates zu entfliehen suchen, eine solche Staatsform hat wahrlich kein Recht, Beethoven als einen der ihrigen zu feiern.“73Willy Hess: Eine Beethoven-Fälschung in der DDR, in: Der Republikaner, 21. 5. 1976.

Nach 1977 wurde es wieder ruhiger um Beethoven – ausgenommen die zyklischen Silvester-Konzerte mit Beethovens Neunter. In den Fokus der Politik rutschte Beethoven wieder, als Leonard Bernstein am 25. 12. 1989 im Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt die Neunte mit dem Text „Freiheit schöner Götterfunken“ statt „Freude schöner Götterfunken“ singen ließ.

Anmerkungen

  1. Rede des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl anläßlich der Eröffnung der Deutschen Beethoven-Ausstellung in Berlin 22. März 1952, SAPMO-BArch, NY 4090/166, Bl. 289.
  2. Das „Kulturpolitische Wörterbuch“ definiert 1978 „Kulturerbe“ als „die Gesamtheit der der Menschheit von vergangenen Epochen überlieferten Kulturwerte“. Manfred Berger u. a. (Hg.): Kulturpolitisches Wörterbuch, 2. erw. Aufl., Berlin 1978, 386.
  3. Die Rede des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl bei der Eröffnung der Deutschen Beethoven-Ausstellung „Beethoven und seine Zeit“ in den Räumen der Staatlichen Museen in Berlin am 22. März 1952, in: Amt für Information der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Deutsche Demokratische Republik ehrt Beethoven. Ludwig van Beethoven 1770–1827. Deutsche Beethoven-Ehrung 1952, Berlin [1952], 4–7, 7.
  4. Harry Goldschmidt: Der späte Beethoven – Versuch einer Standortbestimmung, in: Heinz Alfred Brockhaus und Konrad Niemann (Hg.): Bericht über den internationalen Beethoven-Kongreß 10.–12. Dezember 1970 in Berlin, Berlin 1971, 41–58, 44; zit. n. Matthias Tischer: Ulbrichts Beethoven? Die Konzeption des Beethoven-Jubiläums in der DDR 1970, in: Deutschland-Archiv 41 (2008), 473–480, 479.
  5. Vgl. Zum 125. Todestag Ludwig van Beethovens am 26. März 1952. Stellungnahme des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: MuG 2 (1952), 74.
  6. Ernst Krause: Beethoven-Tage, in: Die Weltbühne 7 (1952), 439–442, 441.
  7. Horst Richter: Beethovens „Neunte Sinfonie“, Programmheft der Staatskapelle Berlin zum Konzert vom 1. 10. 1960.
  8. Vgl. Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (Hg.): Ludwig van Beethoven. Genius der Nation. Ein Material zur Ausgestaltung von Gedenkfeiern anläßlich seines 125. Todestages am 26. März 1952, Berlin 1952, 8.
  9. Georg Krausz: Ludwig van Beethoven – der Lieblingskomponist Lenins, in: Neues Deutschland, 27. 6. 1970, 11.
  10. https://www.beethoven.de/de/g/Lebensweisheiten (24. 11. 2022).
  11. Ernst Krause: Beethoven-Tage, in: Die Weltbühne 7 (1952), 439–442, 441.
  12. Georg Knepler postulierte 1961, „daß Beethovens musikalisches Schaffen bis tief hinein in Fragen der musikalischen Technik, der Melodik, der Harmonie, der Form, von der Botschaft seines Werkes geleitet war; ferner, daß diese Botschaft bestimmt war von Beethovens Verständnis für politische Vorgänge“. Ders.: Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1961, Bd. I, 7; zit. n. Lars Klingberg: Artikel „Musikgeschichtsschreibung, marxistische“, in: Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer (Hg.): Musikgeschichte Online, Hamburg 2018 ff., https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/topics/musikgeschichtsschreibung-folgt (1. 12. 2022).
  13. Hansjürgen Schaefer: Zeitgenosse unserer Epoche. Zum zweihundertsten Geburtstag Ludwig van Beethovens, in: MuG 20 (1970), 793–797, 794.
  14. Vgl. dazu: Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 79–105.
  15. Georg Schünemann (Hg.): Ludwig van Beethoven: Konversationshefte; Bd. 1, Berlin 1941; Bd. 2, Berlin 1942; Bd. 3, Berlin 1943.
  16. Vgl. Martin Hollender: Joachim Krüger alias Dr. Krüger-Riebow: Bücherdieb, Antiquar und Agent im Kalten Krieg, in: Bibliothek (Forschung und Praxis), 30/1 (2006), 69–75, 72.
  17. Vgl. Eveline Bartlitz, Hans Schneider und Ute Schwab: Der Fall Krüger-Riebow in der Erinnerung dreier Zeitzeugen, in: Bibliothek (Forschung und Praxis), 31/1 (2007), 84–89, 85.
  18. Josef Schmidt: Der diebische Bücherwurm, in: Süddeutsche Zeitung, 13./14. 2. 1960.
  19. Autorisierte Schilderung von Dagmar von Busch-Weise aus dem Interview vom 3. September 2007; zit. n. Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 84.
  20. Autorisierte Schilderung von Dagmar von Busch-Weise aus dem Interview vom 3. September 2007; zit. n. Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 84.
  21. Vgl. Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 112.
  22. Vgl. Adenauer, ein schandebedeckter Separatist (Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 124).
  23. Vgl. Karl-Heinz Köhler: … Tochter aus Elysium. Werden und Uraufführung der Neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens und die abenteuerlichen Wege des zerteilten Autographs, hg. von Gunda Köhler-Scharlach, Frankfurt a. M. 2000, 105 f.
  24. Festansprache des Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, WILHELM PIECK, zum 125. Todestag Ludwig van Beethovens beim Festakt in der Deutschen Staatsoper Berlin am 26. März 1952, in: Amt für Information der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Deutsche Demokratische Republik ehrt Beethoven. Ludwig van Beethoven 1770–1827. Deutsche Beethoven-Ehrung 1952, Berlin [1952], 9–20, 18.
  25. Walther Siegmund-Schultze: Musik und Klassenkampf, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 23/4 (1974), 27–35, 27.
  26. Vgl. Karl Laux: Beethoven in der Gegenwart, in: Sonntag, 23. 3. 1952.
  27. O. A.: Berlin im Zeichen der Beethoven-Ehrung. Beginn der Musikwissenschaftlichen Tagung, Tägliche Rundschau, 25. 3. 1952.
  28. Lothar von Balluseck: Beethoven, verdienter Aktivist der Musik: Aus dem Instrumentarium totalitärer Kulturpolitik in der Sowjetzone, Bonn 1952, 14.
  29. Lothar von Balluseck: Beethoven, verdienter Aktivist der Musik: Aus dem Instrumentarium totalitärer Kulturpolitik in der Sowjetzone, Bonn 1952, 4.
  30. Büro des Präsidiums des Nationalrates der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland (Hg.): Seid umschlungen Millionen, Berlin 1952, 8 f.
  31. Lothar von Balluseck: Beethoven, verdienter Aktivist der Musik: Aus dem Instrumentarium totalitärer Kulturpolitik in der Sowjetzone, Bonn 1952, 19.
  32. O. A.: Berlin im Zeichen der Beethoven-Ehrung. Beginn der Musikwissenschaftlichen Tagung, in: Tägliche Rundschau, 25. 3. 1952.
  33. Max Zimmering: Lenin hört Beethoven, in: Tägliche Rundschau, 25. 3. 1952.
  34. Hanns Eisler: [Diskussionsbeitrag], in: Musikwissenschaftliche Tagung der Deutschen Beethoven-Ehrung. Fortsetzung der Berichte dieser Tagung, die vom 23. bis 25. März in der Deutschen Akademie der Künste, Berlin, stattgefunden hat, in: MuG 2 (1952), 223 f., 224.
  35. Edith Schulze-Meister: Beethoven und der moderne Künstler [Auszug], in: Musikwissenschaftliche Tagung der Deutschen Beethoven-Ehrung. Fortsetzung der Berichte dieser Tagung, die vom 23. bis 25. März in der Deutschen Akademie der Künste, Berlin, stattgefunden hat, in: MuG 2 (1952), 224 f., 224.
  36. Ernst Krause: Beethoven-Tage, in: Die Weltbühne 7 (1952), 439–442.
  37. Auch im Folgenden: SAPMO-BArch, DR 1/6144.
  38. SAPMO-BArch DY 34/11–53a–1626.
  39. Vgl. Lars Klingberg: IMS „John“ und Schostakowitsch. Zur Stasi-Karriere von Heinz Alfred Brockhaus, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa, Heft 7 (2000), 82–116; online unter https://ul.qucosa.de/api/qucosa%3A15721/attachment/ATT-0/ (1. 12. 2022).
  40. Heinz Alfred Brockhaus: Aufgaben und Ziele des Internationalen Beethoven-Kongresses der DDR, in: MuG 20 (1970), 317 f., 317.
  41. Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009 (= KlangZeiten 6), 227.
  42. Vorlage an das Politbüro des ZK der SED vom 11. 7. 1969. Betrifft: Beschluß über die Beethoven-Ehrung der DDR 1970, Anlage I. Konzeption für die Beethoven Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik 1970, AdK, ZAA, 792, Sitzungen der Sektion Musik 1969, 1; zit. n. Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009 (= KlangZeiten 6), 234.
  43. Überarbeitetes Schlußwort von Prof. Dr. Paul Michel auf der Beethoven-Konferenz des Deutschen Kulturbundes am 31. 10. und 1. 11. 1969 in Potsdam, SAPMO-BArch, DY 27/3088.
  44. Überarbeitetes Schlußwort von Prof. Dr. Paul Michel auf der Beethoven-Konferenz des Deutschen Kulturbundes am 31. 10. und 1. 11. 1969 in Potsdam, SAPMO-BArch, DY 27/3088.
  45. Überarbeitetes Schlußwort von Prof. Dr. Paul Michel auf der Beethoven-Konferenz des Deutschen Kulturbundes am 31. 10. und 1. 11. 1969 in Potsdam, SAPMO-BArch, DY 27/3088.
  46. Willy Hess: Eine Beethoven-Fälschung in der DDR, in: Der Republikaner, 21. 5. 1976.
  47. Auch im Folgenden: https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/ddr-feiert-beethoven-als-sozialisten-1970-100.html (1. 12. 2022).
  48. Hervorhebung in der Diktion, transkribiert nach: DDR feiert Beethoven als Sozialisten, https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/ddr-feiert-beethoven-als-sozialisten-1970-100.html (23. 11. 2022).
  49. Vgl. dazu Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009 (= KlangZeiten 6), 227–239, und ders.: Ulbrichts Beethoven? Die Konzeption des Beethoven-Jubiläums in der DDR 1970, in: Deutschland-Archiv 41 (2008), 473–480.
  50. Vorlage an das Politbüro des ZK der SED vom 11. 7. 1969. Betrifft: Beschluß über die Beethoven-Ehrung der DDR 1970, Anlage I. Konzeption für die Beethoven Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik 1970, AdK, ZAA, 792, Sitzungen der Sektion Musik 1969, 8; zit. n. Matthias Tischer: Ulbrichts Beethoven? Die Konzeption des Beethoven-Jubiläums in der DDR 1970, in: Deutschland-Archiv 41 (2008), 473–480, 477.
  51. Vorlage an das Politbüro des ZK der SED vom 11. 7. 1969. Betrifft: Beschluß über die Beethoven-Ehrung der DDR 1970, Anlage I. Konzeption für die Beethoven Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik 1970, AdK, ZAA 792, Sitzungen der Sektion Musik 1969, 8; zit. n. Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009 (= KlangZeiten 6), 233.
  52. Willi Stoph: Wenn sich Geist und Kraft vereinen. Rede des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, in: Neues Deutschland, 28./29. 3. 1970, 6.
  53. Vgl. Christina M. Stahl: Was die Mode streng geteilt?! Beethovens Neunte während der deutschen Teilung, Mainz 2009, 132.
  54. Vgl. Matthias Tischer: Ulbrichts Beethoven? Die Konzeption des Beethoven-Jubiläums in der DDR 1970, in: Deutschland-Archiv 41 (2008), 473–480, 475.
  55. Bredemeyer – Bagatellen für B., https://www.youtube.com/watch?v=UMq1oE7pjkY (1. 12. 2022).
  56. Nina Noeske: Musik in der DDR: Historiographische Perspektiven jenseits des Dualismus von Macht und Freiheit, https://ninanoeske.de/data/documents/MusikDDR-Noeske_Schriftfassung.pdf (1. 12. 2022).
  57. https://www.youtube.com/watch?v=mB9l_RxByoA (1. 12. 2022).
  58. https://www.youtube.com/watch?v=tVEKKBlmwd4 (1. 12. 2022).
  59. https://www.youtube.com/watch?v=Gxio54dWfX4 (1. 12. 2022).
  60. Peter Pachnicke: Beethoven als Ware. Geschäft mit der Klassik, in: Sonntag 25/50 (1970), 5.
  61. Auch im Folgenden: Sieghard Brandenburg: Internationaler Beethoven-Kongreß vom 20. bis 23. März 1977 in Berlin, in: Die Musikforschung 30 (1977), 512–515, 512.
  62. Sieghard Brandenburg: Internationaler Beethoven-Kongreß vom 20. bis 23. März 1977 in Berlin, in: Die Musikforschung 30 (1977), 512–515, 514.
  63. Sieghard Brandenburg: Internationaler Beethoven-Kongreß vom 20. bis 23. März 1977 in Berlin, in: Die Musikforschung 30 (1977), 512–515, 513.
  64. SAPMO-BArch, DY 34/25318.
  65. Vgl. O. A.: Autographe von der Hand des großen Meisters, in: Neue Zeit, 26. 3. 1977.
  66. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/58126.
  67. H. Heilbronner: Seine Musik lebt in den Herzen unseres Volkes, in: Bauern-Echo, 26. 3. 1977.
  68. GS: Künder von Frieden und Freiheit, in: Der freie Bauer 7/13 (1952), 11.
  69. BArch, B 106/59580.
  70. Zeitungsausschnitt: Leipziger Volkszeitung, 2. 1. 1972.
  71. O. A.: Für ein lebendiges Beethoven-Bild, in: Tribüne, 25. 3. 1977.
  72. Peter Boenisch: Armer Beethoven, in: Bild am Sonntag, 10. 4. 1977.
  73. Willy Hess: Eine Beethoven-Fälschung in der DDR, in: Der Republikaner, 21. 5. 1976.

Autor:innen

Zitierempfehlung

Christina M. Stahl, Artikel „Beethoven-Rezeption“, in: Musikgeschichte Online, hg. von Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer, 2018ff. Stand vom 02.02.2024, online verfügbar unter https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/topics/beethoven-rezeption-folgt, zuletzt abgerufen am 26.04.2024.