Reimar Bluth

Gespräch am 20. August 2019 mit Reimar Bluth, geboren am 21.10.1941, gestorben am 26.10.2019. (Das obige Foto entstand am 2. September 2005 in Berlin.)

Bluth war von 1952 bis 1960 Mitglied des Dresdner Kreuzchores unter Rudolf Mauersberger. Nach seinem Studium (Musikwissenschaft und Musikerziehung) an der Ost-Berliner Humboldt-Universität war er von 1967 an beim VEB Deutsche Schallplatten Berlin (bzw. von 1990 bis 1993 bei der Deutsche Schallplatten Berlin GmbH) als Lektor tätig. Zeitweise leitete er hier die Aufnahmeproduktion des Klassik-Labels ETERNA. Mit Lars Klingberg spricht er über Alte Musik in der DDR.

Transkript

LK (Lars Klingberg): Also, heute ist der 20. August 2019, und ich spreche mit Reimar Bluth. Wir haben uns viele Jahre nicht mehr gesehen und wollen uns unterhalten über (lacht) Alte Musik in der DDR, Bewegung der historischen Aufführungspraxis, wie das zustande kam, wie sich das sozusagen in der DDR gezeigt hat, wann sich das gezeigt hat und welche Besonderheiten es dabei gab.

RB (Reimar Bluth): Und mein Mikrophon nimmt mich auf?

LK: Das nimmt auf ganz weite Strecken auf, also das müssen wir gar nicht …, darum müssen wir uns gar nicht kümmern.

RB: Gut, also das Wort DDR (oder die Buchstaben) sind für mich Brechmittel, deshalb …

LK: Der Doofe Rest hieß es doch.

RB: … sage ich (lacht). „Soffjetzone“ [wie Adenauer sagte] (lacht). Nein, nein, das ist Quatsch. Also, als du mich anriefst, war ich erst einmal schockiert, denn wie will die „Sowjet…“, die DDR-Ideologie, dieser ‚Alleinvertretungsanspruch für richtiges Denken‘, zusammenkommen mit Alter Musik, das geht ja eigentlich gar nicht. Also: [Über] Alte Musik, haben wir, ich, also jedenfalls noch im Studium bei Herrn [Georg] Knepler, gehört: Barockmusik ist [das] nicht, das ist Musik des Feudalismus. Und diese Schubkästen, die die sich im Osten gebaut haben, sind ja tödlich gewesen. Also: Alte Musik und DDR geht nicht. Warum nicht? Die Musik war Dienerin einer Geistesrichtung, die ja im Osten abgelehnt wurde, nämlich des christlichen Glaubens oder der feudalistischen Herrschaft. Und das war ja für den Osten kein Thema. Und ich muss sagen, ich habe damals die Bemühungen der Akademie für Alte Musik im Entstehen miterlebt: Ein Chaos war das. Ich habe miterlebt, wie in Leipzig seitens des Gewandhauses, der künstlerischen Leitung des Gewandhauses, sprich: des Gewandhauskapellmeisters, total ignoriert wurde, dass um uns herum etwas passiert ist mit musikalischer Aufführungspraxis der Alten Musik. Aber ich …, da kommen wir noch darauf zu sprechen. Also: Ich bin, wie du weißt, groß geworden im Dresdner Kreuzchor, mit Heinrich Schütz und Bach und allen möglichen [Komponisten] groß geworden, das steckt in einem drin. Außerdem ist mein Großvater Kantor gewesen in Zwickau, und nicht nur in der Weihnachtszeit, sondern überhaupt war natürlich die Kirchenmusik, Choralmusik immerzu gegenwärtig. Und das kriegt man dann auch nicht los. Gott sei Dank. Und ich kann nur sagen, jetzt im Rückblick: Was war alles NICHT möglich in der Sowjetzone? Was war alles nicht möglich? So viel. Da haben sich Funktionäre, die diesem total …, diesem System sich untergeordnet haben, haben sich angemaßt, festzulegen, was denn für uns an Kunst, an Musik richtig war, um das auch entsprechend einzuordnen. Dagegen hab ich mich natürlich zwangsläufig immer gewehrt. Denn die Eindrücke, die ich als Kind schon hatte – ich muss da doch kurz drauf eingehen –, diese herrlichen Kirchen, diese Backsteinkirchen in Norddeutschland und in Skandinavien, die herrlichen Hochbarockkirchen in Österreich, in der Tschechoslowakei oder Böhmen und in Süddeutschland, das waren Verbindungen. Und dazu die herrlichen Orgeln, die … Das ist schon ganz großartig, und es ging nicht allen so – meiner Kameraden im Kreuzchor. Viele haben das als übertrieben … Na ja gut, jedenfalls ich habe das natürlich in mir aufgenommen, und ich stand dahinter. Und im Nachhinein, wenn ich bedenke, was ich in meinem Beruf als Leiter der ETERNA-Produktion … Ich war nur für die Aufnahmeproduktion zuständig, nicht aber für den Inhalt, den hat die Partei natürlich bestimmt, nicht?, [da] können wir dann noch mal drauf eingehen …

LK: War das Herr [Hans Gunter] Hoke oder …, im Wesentlichen, oder?

RB: Nö, [Hansjürgen] Schaefer.

LK: Schaefer.

RB: Also vorher [Peter] Czerny.

LK: Ja.

RB: Diese unmögliche Figur Czerny aus dem ZK der SED.

LK: Ja, Kulturabteilung des ZK.

RB: Keine Ahnung, also das war wirklich eine Katastrophe, dass [Hans] Pischner sogar hinterher gesagt hat: Das mit Czerny, das ist uns leider unterlaufen (lacht). Das war wirklich so.

LK: Aber der war ideologisch sattelfest.

RB: Das war ein Stalinist! Furchtbar! Und mit diesem Manne aufzutreten, lieber Lars, das war furchtbar, das war richtig furchtbar, denn man war ja plötzlich ein Stück von Czerny, nicht? Wenn es heißt: „die Schallplatte“, dann bin ich nicht einverstanden. Ich war nicht diese Czerny-Schallplatte.

Vor Czerny war ja Siegfried Köhler künstlerischer Direktor. Der hat mich auch eingestellt. Und ich muss sagen, das war ja einer der vernünftigen Leute, die es ja im Osten, Gott sei Dank, auch gab. Sonst wäre noch viel, viel mehr kaputt gegangen. Genauso wie Pischner. Ein Segen, dass es Pischner gab. Der aus Breslau kommt mit seiner …, mit vielen Geflohenen aus Schlesien und hier gelandet ist in Berlin – unglücklicherweise durch die Kriegsgefangenschaft nun in die rote Socke, also in die rote Abteilung geraten ist. Aber wenn es Pischner nicht gegeben hätte, wäre Manches kaputt gegangen.

LK: Du hast mir mal gesagt, Pischner war so ein Schlitzohr, der einerseits nach außen hin sozusagen die üblichen Parteisprüche abließ, sodass er die Partei quasi in den Glauben versetzte, einer von den ganz Zuverlässigen, einer von ihnen zu sein und dass er aber sozusagen hinter dem Rücken doch vieles möglich machte, Ruth Berghaus förderte, mit den Paul-Dessau-Opern sogar, eine Opernproduktion: die Kammeroper „Hot“ von Friedrich Goldmann …

RB: [Schostakowitschs] „Nase“.

LK: Genau, ja. Oder auch: Du hattest erzählt, dass die Oper „Palestrina“ von Pfitzner, dass Pischner sich da durchaus … – was ja im Grunde genommen [aus SED-Sicht] ein reaktionäres, sozusagen durch und durch vom katholischen Mystizismus durchzogenes Werk ist, wenn man so will, also eigentlich gar nicht in ein sozialistisches Opernhaus passt –, aber Pischner hat das irgendwie möglich gemacht.

RB: Na ja, er hat … (lacht), er stand ja auch unter Druck. Und zwar von beiden Seiten. Von der roten Seite wie auch von der vernünftigen Seite. Und ich kann – ich glaub, ich hab dir es schon mal erzählt – ich kann nur Otmar Suitner zitieren (lacht), der natürlich ein …, als Katholik, der erst mal seinen Nationalpreis, den er von der DDR bekommen hat, der Hedwigs-Kathedrale, also der Hedwigs-Gemeinde übergeben hat: zum Wiederaufbau der Kirche, was für die Ostleute natürlich eine Katastrophe war. Genauso hat Rudolf Mauersberger seinen Nationalpreis 1953 zum Aufbau der Wehrkirche in Mauersberg auf dem Friedhof gestiftet. Wie kann man denn staatliche Gelder für [den] Wiederaufbau einer Kirche stiften? Das geht doch überhaupt nicht! Und, Lars, ich habe (lacht) natürlich mehrere solche Dinger hinter mir in meinem Berufsleben. Unter anderem bei der Komplettierung der Silbermann-Bach-Orgel-Serie haben wir in Ponitz bei Meerane die größte zweimanualige Silbermannorgel, die noch erhalten ist – die mussten wir benutzen, nicht? Und Robby Köbler [der Leipziger Universitätsorganist Robert Köbler] wollte unbedingt auf ihr noch die großen Stücke … Es ging ja nun nicht alles in Freiberg oder … Dresden war damals noch nicht so weit, die Hofkirche … So, und die Ponitzer Silbermannorgel wurde betreut von [Hans] Eule in Bautzen. Und ich kannte Eule, und ein ehemaliger Kruzianer, Armin Zuckerriedel, war die ‚rechte Hand‘ von der Frau [Ingeborg] Eule. Dadurch hatte man natürlich immer Kontakt und war glaubwürdig. Und der sagte mir: „Du, die Herstellung, die Spielbarmachung der Silbermannorgel kostet mindestens 20.000 Ost-Mark.“ Ich sagte: „Und wieviel West-Mark?“ (lacht) Na, es gab doch nichts, kein Leder, es war doch alles nicht möglich, nicht? Also man musste sich immerzu was einfallen lassen. Und da war natürlich die Orgelfirmen, die richtigen, die auch das Herz an der richtigen Stelle hatten … So, und dann kam die Rechnung, da kam mein Hauptbuchhalter: „Herr Bluth, wie stellen sie sich denn das vor? Ein VEB soll der Kirchgemeinde in Ponitz, Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsen, 25.000 – ungefähr war das – Mark überweisen?“ „Tja, und wenn wir das nicht machen, dann zerstören wir bewusst ein Kulturdenkmal, das auf uns zufällig gekommen ist, aber wir finden einen Weg. So, nun beruhigen sie sich erst mal, ich regele das.“ Also hab ich Eule angerufen: „Wir müssen die Rechnung an SIE bezahlen.“ Von VEB an VEB, das ging, aber nicht von VEB an Kirche. Und, nu, so haben wir das dann auch gemacht, nicht? Das war meine erste Erfahrung, Schlitz… auch … nat… Man musste ständig wach sein, weil die, weil oftmals im Westen gedacht wird, wir haben nur gepennt, wir haben nur gezuckt. Das stimmte nicht. Man hätte Manches nicht erhalten können. Und wenn ich daran denke, dass wir ein Kopiergerät brauchten, damals schon ’89 – [das] hab ich schon erzählt, glaub’ ich –, und ich eines Tages nach Dresden zu [Ludwig] Güttler fuhr, und der sagt: „Herr Bluth, gucken sie mal, das ist meine neueste Anschaffung: Kopiergerät mit normalem Papier.“ Wir hatten nur Kopiermöglichkeit: Fotokopien. Wenn wir mit den Chören Aufnahmen gemacht haben, vor allem Chorliteratur: die Geräusche …, es war nicht zu fassen! So und da hab ich mir aufgeschrieben, wie die Maschine hieß (ich weiß es jetzt nicht mehr) und wieviel man auch Ersatzteile braucht, um die Maschine, dann, wenn Schwarz … wenn die Tinte alle ist und, was weiß ich …, denn das gab’s ja wiederum nur im Westen. Und da sagte Güttler zu mir: „Ach, Herr Bluth, hören sie auf zu schreiben, sie kriegen MEINEN Kopierer, ich muss mir sowieso einen neuen anschaffen, weil der zu klein ist für die Massen von Orchestermaterialien.“ So, und da bin ich zu unserer ökonomischen Direktorin – dicke Stasi-Tante. Ach, weißt du Lars, es war so furchtbar! Zum Schluss erzähle ich dir noch was ganz schreckliches, was mich anbetraf –, und da sagte die: „Tja, also Herr Bluth, wie stellen sie sich das vor? Wir als Volkseigener Betrieb wollen von einer Privatperson eine Maschine kaufen? Das geht nicht!“ Und ich sag: „Und wie stellen sie sich das vor, unsere Arbeit zukünftig …, und hier kriegen wir von einem Exklusivkünstler eine Maschine zu Ost-, also zu DDR-Währung, quasi geschenkt …“ „Das geht trotzdem nicht. Wir fahren …, auf der Leipziger Messe erkundigen wir uns …“ Ich sag: „Wissen sie, da fahren sie mal gerne hin, aber so lange können wir nicht warten, wir finden eine Lösung.“ (lacht) Da hab ich Güttler angerufen: „Herr Güttler, wir dürfen von ihnen als Privatmann, auch wenn sie wunderbar Trompete blasen, nichts kaufen.“ So wie im Neuen Testament steht: „Wir dürfen keinen töten.“ Da sagte Güttler: „Ach, Bluth, das kriegen wir doch hin. Wissen sie was? Ich fahre mit dem Gerät zum An- und Verauf (lacht), und sie sind ‚zufällig‘ in dem An- und Verkauf.“ – „Ach, das ist aber schön, da lassen wir das über den An- und Verkauf …“ Und so haben wir das dann auch gemacht.

LK: (lacht)

RB: Das muss man sich mal überlegen. Das waren die linientreuen Genossen, die nur sich gerichtet haben: nach oben richten, nach der Pfeife tanzen. Na ja, aber das war eben, um zu Pischner zurückzukehren, nicht der Fall bei Pischner. Der Glücksumstand war, dass Pischner [von 1950 bis 1954] Chef des Staatlichen Rundfunkkomitees [recte: der Hauptabteilung Musik im Staatlichen Komitee für Rundfunk] war, natürlich mit der Alten Musik durch sein Cembalo verliebt. Und er hatte einen tüchtigen Mann, den ich auch sehr gründlich kennengelernt habe, Helmut Koch, zur Verfügung. Koch gründete das Berliner Kammerorchester. Pischner war Cembalist, und damit war eine Basis geschaffen zumindest für Werke Bachs und umliegender Ortschaften. Und es gibt ja auch genügend alte Mono-Aufnahmen noch aus dieser Zeit, die immerhin dokumentieren, dass diese Musik lebendig war. Aber von der Partei oder von den Ideologen, die für sich in Anspruch nahmen, das Wahre gefressen zu haben, die Wahrheit gefressen zu haben, wurde das überhaupt nicht unterstützt.

Wir haben in Dresden Schütz gehabt, in Leipzig war das Trübe für die Partei Bach. Durch die Thomaskirche. Und die Leute rannten in die Kirchen und hörten sich Bach vor allen Dingen an, Schütz nicht in dem Maße, aber die … In Dresden hat es Mauersberger durchgesetzt. Das war auch ein Kämpfer, was man gar nicht so weiß. 1956 gab es das erste internationale Schütz-Fest in Dresden, „Schützenfest“ sagte Mauersberger immer (lacht), und zwar in Zusammenarbeit mit der Internationalen Schütz-Gesellschaft [damals noch unter dem Namen Neue Schütz-Gesellschaft], die ja dann verboten wurde, will ich jetzt nichts dazu sagen. Ich habe übrigens mit Abitur 1960 den Antrag gestellt, in die Schütz-Gesellschaft eintreten zu dürfen. Da hat mir Frieder Zschoch, der das Erbe bei Breitkopf [und Härtel] oder beim Deutschen Verlag [für Musik] für die Gesellschaften angetreten hat, geschrieben, dass es leider nicht möglich ist. Er bedauerte das sehr, und er wüsste ja auch was der Kreuzchor für Schütz getan hat. Ich habe natürlich geschrieben, dass wir sehr viel Schütz gemacht habe. Kurzum: Mauersberger hatte in Dresden außer[halb] der Kirche kaum Unterstützung. Die Stadt Dresden war sich dessen gar nicht bewusst, dass sie einen, den eisgrauen Senior deutscher Musikanten, wie es bei …, ich weiß es nicht genau wer das so ausgedrückt hat, einer der großen Musikwissenschaftler der Vergangenheit, also Moser war es, glaub ich, nicht. Und Mauersberger hat durchgesetzt: Hans Joachim Moser saß 1956 in der Kreuzkirche, und Mauersberger hat uns natürlich [gesagt]: „Das ist Hans Joachim Moser, der große Schützforscher.“ Der war ja auch nicht …, zwar, also geduldet, aber er war natürlich nicht … im Sinne der DDR anzuerkennen. So, eine lustige Story noch: Mauersberger war ja kein Orchesterdirigent. Er war der Kapellmeister, ist nach dem Ersten Weltkrieg … Und wir haben also Situationen erlebt, aber die gehören zum Thema Alte Musik in der DDR. Die Orchestermusiker in den Hochschulen haben ja mit Alter Musik keine Verbindung gehabt. Die galt ja nicht. Die wurde ja nicht …, die konnte nicht eingeordnet werden in einen Schubkasten, wie das eben im Osten üblich war – und nicht nur in der DDR. Ich war sehr eng befreundet mit dem künstlerischen Leiter von Supraphon, Dr. Eduard Herzog. Der jammerte immer, dass die Alte Musik in der Tschechoslowakei keine Bedeutung hat – wiewohl da die üppigsten Musikanten existierten. Und dann kam Bärenreiter und hat die Editionen mit unterstützt, Zelenka und so weiter. Also es war nicht nur in der DDR so, sondern in Russland, also in der Sowjetunion, gab es ja auch keine Tradition in dem Sinne wie hier in Westeuropa, die Alte Musik an den Höfen, also am Zarenhof in Petersburg, war ja eine völlig andere und auch orthodoxe und nicht lutherische. So, also es wurde ja alles so gemacht, wie unser großer Freund Sowjetunion, egal wie. Absolute Dummheit und Ungebildetheit, kleinbürgerliche Handlungen waren das. So, und – Schütz: Mauersberger probierte in der Kreuzkirche, ich weiß nicht, was es war, ich glaube eines der mehrchörigen großen Konzerte, noch in Pfundnotation, aus der alten Schütz-Ausgabe. Und die Musiker standen …, die Musiker der Dresdner Staatskapelle saßen, und …, Na ja, und Mauersberger wusste sich nicht zu helfen, schimpfte die armen Musiker an: „Sie wollen das Orchester von Heinrich Schütz sein, die Kapelle von Heinrich Schütz sein und können nicht mal seine Werke spielen?“ (lacht) Ja, das gab es natürlich auch, dass im Grunde genommen natürlich da grundsätzlich hätte für die Kulturlandschaft, die wir ja beansprucht haben als DDR, etwas zu tun war, da kam…, da gab es keine Möglichkeiten, nicht? Wiewohl Händel, das war ja noch in Ordnung. Den konnte man ja außerdem umfunktionieren. Aber Bach war ja eine Katastrophe, mit seiner Kirchenmusik und noch dazu, die Kirchen selber, die Kirchgemeinden. Und alles, was mit dem Osten nicht einverstanden war, ist natürlich zur Kirche gelaufen und hat mitgesungen. Und das war natürlich ein Dorn im Auge für den Osten. Dann die Gründung der Kirchenmusikschulen in Dresden, die Aktivitäten in Halle. Das passte dem Osten nicht, und wie das so schön Händel: „Unsere Arbeiter und Bauern sind nicht gewillt (lacht), diese Kultur, die gottesgläubige Kultur zu unterstützen.“ Na gut, ich hab’s jetzt nicht richtig zitiert, aber das sind so Dinge, die ich ja am eigenen Leibe miterlebt habe. Es sei denn, es gab dann die CDU. Mein Schwiegervater war Pastor, der hat immer gesagt: „CDU, das heißt SED-Abteilung Christen“ (lacht).

LK: „Die SED für Christen“, so kenn ich’s immer … Angeblich ein geflügeltes Wort.

RB: Ja, ja. Und die hatten in Burgscheidungen, in Thüringen [recte: in Sachsen-Anhalt], hatten die ihr …, so ein Domizil [im Schloss Burgscheidungen betrieb die DDR-CDU von 1955 bis 1990 ihre Zentrale Schulungsstätte „Otto Nuschke“], und Mauersberger wurde also eingeladen mit dem Kreuzchor, und es war auch – ich kann jetzt nicht mehr genau sagen, welches Jahr – der Kurfürstentag in Mühlhausen, der berühmte, wozu Schütz ein herrliches mehrchöriges Konzert, „Da pacem, Domine“, „Gib Frieden“, die berühmte Bitte um Frieden [komponiert hat]. Und das haben wir dort aufgeführt, natürlich. Und Mauersberger hat gleich noch eine Motette dazu komponiert nach Worten des Alten Testamentes, das mussten sich die Genossen gefallen lassen. Aber, Lars, das Größte war: Dieses „Da pacem“ war natürlich von Schütz textiert für diesen Kurfürstenkollegtag mit „Es leben die Vertreter aus Mainz, aus Köln …“, also die Kirchenfürsten, nicht? So, und das ging natürlich für die CDU zu weit. Also musste da eine Lösung gefunden werden (lacht). So wie für die Kaffeekantate, [da] haben sie doch auch Lösungen gesucht, und für die Bauernkantate. Schade, dass Bach nicht ne Arbeiterkantate …, das wäre doch das gefundene Fressen [gewesen], da hätten wir doch den Kasten gehabt, wo wir das reinstecken, nicht? Also man kam sich vor wie im Kindergarten.

LK: Das ist mir jetzt neu, dass auch Bauernkantate und Kaffeekantate …, dass umgetextet wurde?

RB: Na ja, die Bauernkantate, gab es ja eine Ausgabe im Volk-und-Wissen-Verlag für Schulen, nicht? Aber das weiß [Andeas] Glöckner ganz genau. Und da wurde eben „Vivat Coloniensis“ oder „Vivat …“ (was weiß ich), da wurde aus dem vorhandenen Text „vivant tria fundamina pacis“ also: „Es leben die Fundamente des Friedens.“ Da gab es kürzlich einen bitterbösen Brief an mich. Ich hab damals Mauersbergers letzte Aufnahme, das war an der Grenze des überhaupt noch Machbaren …, da haben wir dieses Stück aufgenommen mit dem umtextierten [Text], wie es damals in den Noten des Kreuzchores stand, nicht? Und ich muss sagen, ich hab darüber auch gar nicht groß nachgedacht. Das kann man natürlich eigentlich nicht machen. Hans Grüß war mit von der Partie mit Capella Fidicinia. Und wenn Grüß nicht gewesen wäre, wäre die Aufnahme zusammengebrochen. Er hat dann letztendlich dirigiert, und Mauersberger saß vor seinem Chor. Also, das war, schwierig, sehr schwierig, aber wir hatten es hingekriegt. Und der hat gesagt: „Wie konnten sie denn so was machen?“ Und den hab ich dann an … Ich kann natürlich von hier aus nicht prüfen, wer die Umtextierung vorgenommen hat, jedenfalls genial, vor allen Dingen von der Silbenanzahl her. Und es ist nichts Ungewöhnliches, die Garanten des Friedens zu … hochleben zu lassen, nicht? Das waren ja sozusagen die katholischen oder die Reichsverweser oder was da auch alles in Mühlhausen herumlief. Na ja, gut, aber fragen kann man ja. Ich hab dann an Matthias …, na, in Dresden, Mensch, ich komm jetzt nicht auf seinen Namen, auf seinen Familiennamen …, also, der über Schütz und Kreuzchor und Dresdner Musikgeschichte …

LK: Ach, Matthias Herrmann?

RB: Herrmann, Matthias Herrmann … verwiesen, und ich wollte ihn immer mal anrufen und fragen: „Was haste denn diesem Hirni da geantwortet, der sich nicht vorstellen konnte, dass das im Osten nicht möglich war, Mainz und Köln zu verherrlichen?“ Das gehörte doch nicht zum Territorium unseres ‚gelobten Sozialismus‘. Also, die Engherzigkeit, die war für Alte Musik sozusagen tödlich. Und ich muss sagen: Diese Persönlichkeiten, von denen ich schon sprach, also Pischner, an entscheidender Stelle, vor allem die konnten ja was bewegen. Und Helmut Koch. Die haben sich auch beide immer abgesprochen. Ich hab das miterlebt: In Pankow (lacht) nach einer Aufnahme hatte Friedel Koch für immer Helmut Mittagessen gekocht. Hervorragend kochte die, wir hatten alle Hunger. Aber nur Helmut kriegte was zu futtern. Na ja, und jedenfalls, Gott sei Dank, war das, also, zumindest das war ein Fundament, um überhaupt Alte Musik noch existieren zu lassen. Und dann kam natürlich die Zeit, das, ein weiterer Dorn im Auge für die Partei, war das Bach-Fest 1950. Wie konnte denn das ausgerechnet in der Zeit, wo der, wo die sozialistischen Gehirne gebildet werden sollten, stattfinden? Und dass nun auch noch die Sowjetunion da mit einstieg, mit Moskauer Kammerorchester, [Rudolf] Barschei damals, oder Schostakowitsch, nicht? Das ist doch unglaublich. Und sich [Wilhelm] Pieck bewegt hat, da sogar mal ein Schritt in eine Kirche zu bewegen. Ich habe als Sängerknabe erlebt, dass Direktoren der Kreuzschule in Dresden – so hieß sie damals noch, dann wurde sie ja zur Polytechnischen Oberschule … –, die haben keinen Schritt in eine Kirche getan! Da haben wir uns an den Kopf gefasst.

LK: Das Verrückte bei Pieck, Wilhelm Pieck, der da einen Kranz niedergelegt hat, am Sarkophag von Bach, 1950, war ja, dass kurz zuvor erst der Sarkophag in die Thomaskirche transportiert worden war, und das war sozusagen illegal. Das war eine spontane Entscheidung des …

RB: Ja, hier, der Turmgräber der Johanniskirche …

LK: … Bauleiters, der die Enttrümmerungsarbeiten an der Johanniskirche geleitet hat. Mir fällt im Moment der Name nicht ein [Adalbert Malecki]. Und der hat diesen Streit, der ja schon älter ist als Bach … – der Sarkophag lag ja dort und war erhalten geblieben im Krieg, aber die Kirche darüber zerstört –, er hat einfach in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Bach in die Thomaskirche geschafft. Und dann gibt es sogar einen Zeitzeugenbericht, dass dann der Thomasorganist, Karl Richter damals, als er das mitgekriegt hat, dass Bach kommt, spontan irgendeinen Bach-Choral gespielt hat, sozusagen. (lacht)

RB: (sächselt) „Hier ham se ihren Dhomasgandor wiedor!“

LK: Und das Irre ist also, dass im Grunde genommen Pieck diese Aktion, die der Partei total zuwider war, abgesegnet hat, denn die hatten damals vorgehabt, Bach und übrigens auch andere große Persönlichkeiten der Geschichte in ein Mausoleum, natürlich einem STAATLICHEN Mausoleum, unterzubringen.1Siehe Lars Klingberg: „Herein mit J. S. Bach in die Nationale Front“. Anmerkungen zur „Deutschen Bach-Feier 1950“, in: Karl Heller und Andreas Waczkat (Hg.): Rudolf Eller zum Achtzigsten. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Prof. em. Dr. Rudolf Eller am 9. Mai 1994, veranstaltet vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Rostock im 60. Jahr seines Bestehens im 575. Jahr der Universität Rostock am 11. Mai 1994, Rostock 1994, 107–114, 109. Das heißt, dass Bach der Kirche weiter gehört und dass er eben in der Thomaskirche seine Ruhestätte gefunden hat, das war ihnen eigentlich gar nicht recht, und Pieck hat im Grunde genommen diesen Zustand halt abgesegnet.

RB: Ja, sie wussten ja offensichtlich gar nicht dass solche Persönlichkeiten in einer Kirche, in der sie gewirkt haben, beigesetzt wurden. Crüger, Nicolai, nicht? Und so weiter. Es ist doch, diese Unkenntnis.

LK: Reimar, ich hab so ein bisschen die Sorge … Ich will nämlich zu einem Thema gerne noch, das wir vielleicht da noch hinkommen …

RB: Bitte!

LK: Das ist die ganze Entwicklung mit der historischen Aufführungspraxis. Dann der 60er Jahre. Da gab es ja praktisch zunächst offenbar in der DDR so gut wie gar keine Entsprechung …

RB: Nein.

LK: Ich kenne die schöne Geschichte von Adele Stolte, die sie mir selber erzählt hat und die sich dann auch mit der Erzählung ihres Mannes in der Festschrift zum 70. Geburtstag findet,2Siehe Wolfram Iwer: Biografie im Dialog, in: Adele Stolte. „Ich bin vergnügt mit meinem Glücke“. Gesungen – gelebt – bewahrt, hg. vom Förderverein der Potsdamer Kantorei an der Erlöserkirche e. V., Potsdam 2007, 17–47, 32. dass … Sie hatte eine Schallplatteneinspielung gemacht von Händels „Neun deutschen Arien“ mit ihrem Mann [Wolfram Iwer] zusammen als Cembalisten, und Johanna Rudolph wollte verhindern, dass die Platte ausgeliefert wird, weil da –, das war ’67/’68 – Adele Stolte ganz zögerlich – also wenn man sich das anhört, das ist ganz vorsichtig – von sozusagen den neusten Errungenschaften der historischen Aufführungspraxis insofern Gebrauch gemacht hat, also dass sie dann eben bei Da-Capo-Stellen bisschen improvisiert hat, aber das wie gesagt ganz dezent und vorsichtig. Aber das hat Johanna Rudolph als sozusagen den Einbruch westlicher Ideologie [angesehen]. Weil ja diese ganze Bewegung der Aufführungspraxis aus dem Westen kam, war das gewissermaßen ‚politisch-ideologische Diversion‘ – so nannte die SED das, oder nannte die Stasi das –, also der Westen hat hier ideologisch sozusagen Fuß gefasst –, und das darf also nicht publiziert werden. Und Helmut Koch hat höchstselbst dann durchgesetzt, dass die Schallplatte doch produziert wurde, veröffentlicht wurde. Das ist so für mich das früheste Zeugnis, wo man sich in der DDR mit dieser Bewegung …, alles was irgendwie aus dem Westen kam, was neu war, wurde ja zunächst sehr misstrauisch beargwöhnt. Und wie war das dann im Laufe der Entwicklung? Du hast schon die Gründung der Akademie für Alte Musik erwähnt, das ist ja aber doch erst in den 80er Jahren …

RB: Es wurde ja gar nicht zur Kenntnis genommen, Lars, viel schlimmer. Leipzig hatte ja nun, das Prä der Welt auf sich gezogen: Hier wird Bach gemacht und musizierte den schlechtesten Bach, natürlich, durch den Erhard Mauersberger. Es fehlte einfach die Musikerpersönlichkeit. Und das Allerschlimmste war, Lars, wir hatten ja bei unseren Bachkantatenproduktionen sozusagen die Wahrheit vor dem Mikrophon. Und es war teilweise so schlimm, was uns da angeboten wurde, dass wir die Aufnahme abgebrochen haben. Weil einfach die Diensteinteiler des Gewandhauses haben festgelegt, wer welche komplizierte Obligatpartie übernimmt. Und das ging natürlich oftmals in die Hosen. Daraufhin habe ich [Kurt] Masur Aufnahmeteile vorgeführt. Ich sagte: „Herr Masur, wir müssen hier etwas tun.“ Es wurde ja nicht mal das von Staatswegen sanktionierte Bachorchester für die Kantatenproduktion eingesetzt. Nein, es kam also, ich nenne keine Namen, also es waren …, gab so tolle Gewandhausmusiker, aber die waren eben im Dienst nicht dran. So, und (lacht) Masur knirschte nur und sagte, ja, da müssen wir was machen. Er hat nichts getan. Er hat ja nicht mal zur Kenntnis genommen, dass in Wien ein Nikolaus Harnoncourt oder ein Gustav Leonhardt in Amsterdam etwas Neues initiierte, durch die Kenntnisse der Traktate, das Beschäftigen mit der Alten Musik. Es war ja ne Menge überkommen, aber Masur hatte gar keinen Sinn dafür. Übrigens [Helmuth] Rilling auch nicht. Und so kam es also, dass … Ich hatte den Auftrag, Aufnahmen künstlerisch zu produzieren, die weltweit wirksam werden. Aber mit der Leipziger Bachinterpretation, mit der Leipziger Bachaufführungspraxis war nix zu holen. Da kam wieder eine Sternstunde, und das kannst du bestimmt recherchieren, ich hab nicht die Kraft dazu. 1978 oder ’79 muss …, gab es ein aufführungspraktisches Kolloquium der Karl-Marx-Universität. [Reinhard] Szeskus, an den kann ich mich noch …, [Armin] Schneiderheinze. Und die praktizierten offensichtlich, weil es in Leipzig keinerlei Reaktionen gab und die Leute schon gerufen haben: Gottes Willen, geht bloß nicht in die Thomaskirche!, um ein aufführungspraktisches Kolloquium zu machen.3Siehe Reinhard Szeskus (Hg.): Aufführungspraktische Probleme der Werke Johann Sebastian Bachs, Leipzig 1987. Eingeladen wurde nicht das Bachorchester, sondern die Leipziger Kammermusikvereinigung, Leitung: Max Pommer. Und Walter Heinz Bernstein, einer der sich in diesem musikgeschichtlichen Traktaten hervorragend auskannte als Kirchenmusiker. So, und die haben praktiziert: das bachsche Tripelkonzert in verschiedenen Artikulationsformen. Also das hat mich umgehauen! Und mir gesagt: Mensch, hier gibt es ein Potenzial in Leipzig, das erst mal ein in sich künstlerisch geschlossener Klangkörper war, und wir quälen uns mit so zusammengewürfelten Gewandhausmusikern ab.

LK: Hattet ihr jemals …, oder hattest du jemals vielleicht daran gedacht, so eine Art schallplatteneigenes Ensemble, das dann … zu gründen?

RB: Ja natürlich, das kommt ja jetzt. Und wir haben, ich müsste jetzt noch mal genau nachgucken …, das „Magnificat“ stand auf dem Programm, also auf dem nächsten Aufnahmeprogramm, mit [Hans-Joachim] Rotzsch, und ich habe nicht das Gewandhausorchester verpflichtet, sondern die Leipziger Kammermusikvereinigung. Lars, das hat mir fast Kopf und Kragen gekostet. Die Musiker des Gewandhauses waren wütend, denn das Geld floss nicht mehr in die Gewandhauskasse, sondern zu denen. Umgekehrt war meine Bedingung … Ich hab mich mit Pommer sofort hervorragend verstanden, und hab ihn auch gebeten, dass er richtige Orchestereinstudierungen vornimmt, denn (lacht) Walter Heinz Bernstein sagte: „Wie die ihre Bögen halten, das kann ja nichts werden!“ Und … (lacht) es war …, also im Grunde genommen ein Moment, wo in Leipzig hätte etwas Grundlegendes passieren können, aber Masur hatte Angst vor seinen Musikern, denn die haben ihm das Leben natürlich dann entsprechend schwer gemacht, nicht? Und dann wurde ich zitiert zu meinem Direktor, Schaefer: Also, wenn ich weiter solche Dinger in Leipzig durchführe bin ich meinen Posten los … Das war ich schon mal, das war, kam dann hinterher noch mal, wenn ich weiterhin Kirchenchöre ins Studio engagiere, wie den Rostocker Motettenchor, dann bin ich meinen Posten los. Na ja, ich hab ihn bis zum, bis zur Wende behalten, aber es war natürlich keine Basis für eine Arbeit, für meine Arbeit.

LK: War nicht diese Aufnahme der Bach-Motetten damals mit dem Rostocker Motettenchor die erste, also jetzt von Thomaner- und Kreuzchor abgesehen, Aufnahme mit einem Kirchenchor überhaupt gewesen auf einer Schallplatte?

RB: Ja, überhaupt die allererste! Und ich wurde ja zitiert zu Herrn … [Harri Költzsch], meinem Direktor, weil er vom Ministerium für Kultur befragt worden ist, was denn der Rostocker Motettenchor für ein Institut ist. Also wer ist die Trägerinstitution? Und ich hab mich natürlich zusammengerissen, um ihm das Wort Kirche in den Mund zu legen: „Der Rostocker Motettenchor besteht aus Ärzten, Lehrern, Schwestern, Schülern und so weiter.“ Da guckt er mich blöde an. Tja, so war das. So, und dann kam das nächste Ding: [Hartwig] Eschenburg rief mich eines Tages an: „Herr Bluth, wir können …“ Die erste Periode der Bach-Motetten war vorbei, ich bin davon ausgegangen, erst mal, war es eine künstlerisch hochwertige Arbeit, die der Eschenburg in Rostock geleistet hat, im eisgrauen Norden, nicht? Wo eigentlich keine Kultur war, Kultur gab es ja nur in Dresden, Leipzig und Berlin. Und ich muss sagen: Was dieser Mann da getan hat, das ist … Und den Zuspruch nicht nur von den Sängern, sondern auch vom Publikum. [Rudolf] Eller hat ja immerzu geschwärmt: Sie müssen mal nach Rostock kommen, zu einer Aufführung der Passionen oder …, und, der … Also, dass ich auch mit Eller noch in Berührung kam, bin ich …, ich bin so dankbar dafür. Wer hatte denn die Möglichkeit? Und mit Eller hab ich mich glänzend verstanden. Wir wussten natürlich, aus welchem ‚Holz‘ wir sind. So, und dann rief mich Eschenburg eines Tages an: „Herr Bluth, die zweite Periode können wir nicht durchführen: Fünf Sänger, die ganz wichtig sind, bekommen keine Erlaubnis, also werden nicht freigestellt.“ Nun gab es ja diesen Paragraphen, auch im Osten: für kulturelle und sportliche Freizeitarbeit freigestellt werden zu können. Also haben wir für jeden Sänger einen Brief geschrieben – damals gab es noch keine Kopiermöglichkeiten, ach mei…, die Frau Müller, was hat die sich die Finger … –, dass wir darum bitten, freigestellt für die Bach-Ehrung 1985. So spät war das, also die Aufnahmen haben wir ’82/’83 gemacht, wir hatten ja immer zwei Jahre Vorlauf, weil die Druckereien nicht so schnell waren, nicht? Die brauchten ihre Zeit für die Druckerschwärze. Und, so und … Ich muss absagen, nu, war ich so, ich mein manchmal hat einem der liebe Gott die Feder geführt, ich hab Grüß mit ins Boot genommen, mit Capella Fidicinia, für die Obligat…, Instrumentalstimmen und ich glaube auch dass Grüß und [Winfried] Schrammek, diese beiden Leute, wenn es die nicht gegeben hätte in Leipzig, wäre, so wie in Dresden, nichts passiert. Das heißt, in Dresden gab es ja auch [Wolfram] Steude und Leute, die sich, die hier in Berlin auch um Alte Musik bemüht haben, aber das wurde ja gar nicht …, das wurde ja verschwiegen, das wurde ja totgedrückt von diesen Ideologen, nicht? Und vor allen Dingen: Historische Instrumente gab es ja nicht. Hätte hier in Berlin nicht diese, diese Sammlung alter Instrumente bestanden, wäre damals die Grundlage für die Akademie für Alte Musik nicht gegeben gewesen. So, und da hab ich Eschenburg … Der dachte natürlich: Wenn ich einen Wink von deinen … – wie heißt es im Weihnachtsoratorium: „Nur ein Wink von seinen Händen stürzt ohnmächtger Menschen Macht“ –, ich hab Eschenburg nur gesagt: „Herr Eschenburg, ich kann überhaupt da nichts machen, wenn es einer tun könnte, wäre es mein künstlerischer Direktor, und der hat die Hosen voll! Also, gehen sie zur CS…, zur CDU, und ihre Sänger haben alle dieses , diesen Brief und die Freistellung muss eigentlich gewährt werden, so sagt es jedenfalls die damalige Bestimmung und wenn sie da Schwierigkeiten hat, dann melden sie sich wieder, dann muss ich halt den Schritt zu meinem Direktor, bloß der wird nichts machen.“ Und ich werde zu meinem Direktor gerufen: „Herr Bluth, was haben sie denn da wieder gemacht?“ Ich bekomme die Anfrage vom Ministerium. Also, Eschenburg ist zur CDU gegangen, in Rostock, die CDU hat sich bei der SED beschwert. Die SED hat natürlich nicht eingesehen, dass sie sich nach der CDU richten muss, sondern hat sich gleich beim ZK beschwert, Abteilung Kultur. Und die haben sich natürlich, immer schön der Adelspyramide nach, ans Ministerium für Kultur gewandt. Und das Ministerium für Kultur ahnungslos: „Wie kann man denn mit einem KIRCHENCHOR Aufnahmen machen?“ So, und Schaefer, Hosen voll: „Bluth!“. So … Also man muss mal die Wege sich überlegen, was die alles in Bewegung gesetzt haben, nur um die ‚Bach-Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik‘, die ja groß auf dem Papier stand und genehmigt worden ist von [Werner] Felix … Also unsere Veröffentlichungen mussten ja alle abgestimmt werden in Sachen Händel, in Sachen Bach, in Sachen Schütz und für Bach waren zuständig: der Herr [Werner] Neumann für die Vokalwerke und Herr Hoke für die Instrumentalwerke, der das große E-Moll-Präludium-und-Fuge nicht als würdig erkannt hatte, in die Bach-Edition aufgenommen zu werden; er kannte es ja gar nicht. So, also jedenfalls …

LK: Aber die „Kunst der Fuge“ kannte er …4Siehe Hans Gunter Hoke: Studien zur Geschichte der „Kunst der Fuge“ von Joh. Seb. Bach, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 4 (1962), 81–129.

RB: Ja. Jedenfalls, es wurde dann …, die haben frei gekriegt, und wir konnten die Aufnahme fortsetzen. Ich weiß nur nicht, wer da … Ich wäre ja, also, bis zu Pischner gegangen, wenn das nicht passiert wäre, denn ich war machtlos, mir hat …, ich war doch kein Genosse, ich war doch nur so ein künstlerischer ‚Zuhälter‘. Und außerdem: Die Aufnahmen – das war nun noch das Positive, dass die DDR kein Westgeld hatte (räuspert sich) –, die mussten alle schon vor der Aufnahme vertraglich gebunden sein, und die Motetten waren gebunden natürlich für Capriccio, für die Capriccio. Und damit ich noch eine Ohrfeige hinterher kriegte: Der Dr. [Winfried] Ammel von Capriccio kam natürlich auf die tolle Idee … Er musste ja in den, in der Vielfalt der Veröffentlichungen zum Bach-Jahr irgendwas tun, und da kam er auf die Idee: Leipziger Bach-Edition, oder Bach-Edition Leipzig – du kennst es sicher, nicht? – zu veröffentlichen. Da kam dann der nächste Schuss: Im Westen gibt es eine Bach-Edition Leipzig, wieso gibt es denn die in der DDR nicht? (lacht) Na ja, also jedenfalls: Es war hoffnungslos, im Grunde genommen! Aber, ach so, da wurde mir in die Schuhe geschoben, ich hätte den Ammel die Idee gebracht, eine Bach-Edition Leipzig im Westen zu veröffentlichen. Das war ich nicht, ich muss sagen, im Nachhinein wäre ich glücklich gewesen, wenn ich auf die Idee gekommen wäre, und es hat eine Menge bewegt, nicht? Und die Leute waren erst einmal: „Aha, in Leipzig tut sich was.“ Und der Ammel hat Geld verdient mit dieser Edition, der sagte immer: „Wissen sie, es ist nichts schöner für einen Klassikproduzenten, als wenn mal ein warmer Regen fällt.“ Und mit Bach ist dieser Regen gekommen für Capriccio.

LK: Meiner Erinnerung nach lief das auch im Radio häufig, im Westradio.

RB: Ja, natürlich.

LK: Das war natürlich eine Referenzaufnahme.

RB: Ja, die Aufnahmen waren ja verfügbar, und die Westfirmen haben ja auch Geld verdient, indem Radiosendungen und so was brachten. Aber es war die DDR vor allen Dingen, oder sagen wir mal: die wichtigste Aufführungsstätte in Leipzig, die war im Gespräch mal wieder. Denn die Aufnahmen, die vorher Mauersberger ablieferte, selbst bei Archiv … Der Professor Holschneider, Andreas Holschneider, der griff natürlich nach Thomanerchor und Gewandhausorchester, so wie zu [Günther] Ramins Zeiten, und, ich muss immer wieder sagen: Der Westen war ja ein Mitinitiator, dass überhaupt hier was passiert ist. Die Partei hat ja alles nur abgelehnt oder zunichte gemacht. Also, Archiv war die erste Serie mit [Kurt] Thomas, eine ganz schreckliche Aufnahme der Bach-Motetten, und dahinter stand bei mir: Wieso ist …, sind Bach-Motetten und -Kantaten ausschließlich Sache der Knabenchöre? Wir haben doch auch Erwachsenenchöre, wir hatten Rundfunkchöre, und Helmut Koch hätte gerne natürlich auch so was gemacht, und wir haben ja angefangen, die weltlichen Kantaten mit Helmut Koch aufzunehmen, und er starb darüber. Und es ist mir damals gelungen …, ich musste dann (lacht) mit Czerny – kannst du dir das vorstellen: mit Czerny? – nach Hamburg! Der hatte keine Ahnung, Verhandlungen mit der Deutschen Grammophon zu führen. Er war ahnungslos, kannte den Katalog nicht, kannte die Werke nicht. Wie sollte das gut gehen? Und da hab ich dem gesagt: „Herr Czerny, wenn ich mitkomme, dann muss ich auch entscheidungsfähig sein!“ Und damals fing [Peter] Schreier an zu dirigieren. Pischner hatte ihn in der Staatsoper mit Mozart und so weiter. Ja, wir hatten doch niemanden, [es] gab doch nichts, Lars. Persönlichkeiten entfalteten sich doch nicht im Osten automatisch. Und Schreier war infiziert von Karl Richter in München. Der sagte mir immer: Wenn du die Möglichkeit hättest …, du müsstest mal erleben, wie der Richter mit den Orchesterleuten und dem Chor und überhaupt arbeitet. Da springt ein Funke über! Und wenn man sich die Aufnahme im Nachhinein anhört, das ist heute nicht mehr der Stil, aber es ist eine Faszination in dieser urkatholischen Münchner Hochburg, eine solche Bach-Pflege zu entwickeln, nicht? Der Richter war ein Verrückter! Und deshalb war …, haben wir ihn ja mal auch wieder nach Freiberg geholt, nämlich dem Ort, wo sein Vater Pastor war, mit Schreier. Und durch Schreier war natürlich Vieles zu bewegen, nicht? Obwohl er immer ein bisschen ängstlich war, aber …, und dann kam also die berühmte Aufnahme der Schemelli-Lieder mit Schreier und einer Soloplatte, das war ein Wunsch der Archiv-Produktion – na aber selbstverständlich! – mit der Dorischen Toccata und Fuge und „Sei gegrüßet, Jesu gütig“, die Variationen, und also, das war für mich eine Faszination, den Richter beim Arbeiten zu erleben. Man durfte ja nirgends hin! Nicht mal, nicht mal zweihundert Meter von der Schallplatte entfernt wurde uns 1985 der Deutsche Schallplattenpreis zuerkannt für die Brandenburgischen Konzerte. Ich durfte die zweihundert Meter nicht bis ins Instrumentenmuseum nach Tiergarten. Hat Herr Schaefer verhindert. Das war ja nicht SEINE Sache. Sondern die Brandenburgischen Konzerte gehörten dem Bachorchester des Gewandhauses! Weil die Partei es so wollte. Die waren dafür zuständig, die hatten den Kasten. Und wir haben … (lacht), also Schaefer hat veranlasst …. Vielleicht war es auch taktisch ganz klug für das Gewandhausorchester, dass ’84 noch mal die Brandenburgischen Konzerte mit dem Bachorchester …, na ja, gut, also. Und dann wollte Schaefer das dem Ammel unterjubeln, also Capriccio. Und ich hab den Ammel bloß angeguckt, wir haben wunderbar miteinander … Augen! Der Ammel wusste genau, was los war, war für mich natürlich auch gefährlich. Und, da sagt der Ammel: Nein, also ich möchte das Neue Bachische Collegium Musicum, natürlich mit Güttler! Da hat er ja viel Geld verdient mit Güttler, nicht? So, und dann hatten wir ein nächstes Gespräch mit Pommer, und Schaefer vermutete, dass Pommer dem Ammel infiziert hat, er will die Brandenburgischen Konzerte machen. Und dann hat Herr Schaefer, der künstlerische Direktor, seinem Künstler in die Weste gejubelt: „Herr Pommer, ich verbitte mir ihre Einflussnahme in die …“, na wie hieß das damals? „ in die „außenwirtschaftliche Tätigkeit des VEB Deutsche Schallplatten. Das ist meine Sache!“ Pommer müsst ihr unbedingt noch informieren! So, und jetzt komme ich auf das Allerschlimmste, Lars, entschuldige bitte, wenn das Herz übergeht. Masur, der nahm ja keine Kenntnis von dieser Aufführungspraxis und probierte mit dem Gewandhaus, und plötzlich schnauzt er einen ersten Geiger an, [Gunar] Kaltofen, der ist inzwischen tot [† 2002]. Er solle seine barocken Schnerzchen lassen! Die er von Herrn …, also hier … dem Neuen Bachischen Collegium … Also, Lars, das muss man sich mal überlegen, was der Masur, dieser …, „unser aller Kurt“ hieß er ja in Leipzig, für ein unfähiger Mann auf der Strecke war. Absolut unfähig! Und, ich meine, wir hatten ja nun alle möglichen Dirigenten vor unseren Mikrophonen.

LK: Wie hat der eigentlich so Karriere machen können? Sogar in New York?

RB: Tja, das fragt man sich, der sah aus wie Brahms und Bruckner in einem.

LK: Ja, ich glaub, den Eindruck hatte ich auch fast.

RB: Die gehen ja nur von solchen Dingen aus, na ja, und natürlich: Seine Popularität in der Wendezeit, das war natürlich nicht schlecht.

LK: Eigentlich zu unrecht, wenn man sich damit mal beschäftigt. Er gilt als der ‚Retter von Leipzig‘, weil er diesen Aufruf gemacht hat, der dann über den Stadtfunk lief. Wenn man aber weiß, wie die Sache gelaufen ist …: Er ist natürlich NICHT der Initiator dieses Aufrufs gewesen, sondern, Andere haben ihn dazu gedrängt, und er hat sich dann bereit erklärt, nachdem er sich abgesichert hat, dass auch die Leute von der Partei dabei sind, sodass die Verantwortung nicht auf ihm lastet und er notfalls sagen kann: Ja, ich bin nicht der Initiator. Und er ist dann nach der Wende überschüttet worden mit irgendwelchen Preisen, weil er eben als ‚Retter von Leipzig‘ galt, im Grunde genommen zu unrecht. Ich hab mir mal seine Stasiakte angeschaut, er war durch und durch angepasst, hat mit der Stasi kooperiert, wenn es immer darum ging … Wenn es Westreisen sind, mussten ja die ganzen Musiker kontrolliert werden. Er hat die gesamte Zeit bis zur Wende nicht einen Hauch von …, sagen wir mal: oppositionellem oder irgendwie kritischem Verhalten an den Tag gelegt, war durch und durch angepasst. Also, mich ärgert einfach, dass durch dieses singuläre Ereignis also jemand da aufgewertet wurde, der … Da sind ganz andere Leute, die eigentlich …, denen das Verdienst zukäme, ja?

RB: Na ja, aber wie kann ein Gewandhauskapellmeister einen Musiker so anfahren? Also, Pommer weiß es wörtlich noch.

LK: Und warum hatte so die historische Aufführungspraxis Alter Musik so einen schlechten Stand, dass also … War das nur ne persönliche Marotte von Masur oder war das in gewisser Weise typisch für die DDR, dass man dafür keinen Bedarf hatte?

RB: Du, der Masur wusste gar nicht, wovon die Rede ist, der war ungebildet! Ich muss es wirklich so sagen.

LK: Der war ja Elektriker von Beruf. Gut, das muss …, das ist ein ehrenwerter Beruf, aber …

RB: Aber, ich muss sagen, auch dass er sich dafür überhaupt nicht interessiert hat, für den war: Bach macht das Bachorchester mit Herrn [Gerhard] Bosse, hin und her, die kleine Kapelle, Bach-Bosse, haben sie doch, die Leunaer Arbeiter und Bauern. Wie hieß das Bachorchester: die kleine Kapelle Bosse …

LK: Hmm …

RB: Wenn er da auftrat, nicht? Oder soll so geheißen haben, also, Lars, es war ein so primitivlich, im Grunde genommen widerlicher Verein, was da passiert ist. Und dazu noch natürlich diesen Thomaskantor, Erhard Mauersberger, und, was einzig vernünftig war, war der Direktor der Thomasschule. Den habe ich richtig verehrt. Der noch aus der Ramin-Zeit da war, und den sie komischerweise da gehalten haben. Na ja, und dann kommt, dann bin ich fertig. Werner Neumann schrieb natürlich auch die Texte und rief mich eines Tages an: „Herr Bluth, das können …, müssen wir das machen? Leipziger Kammermusikvereinigung mit Magnificat und Kantate 10 „Mein Seele erhebt den Herrn“, müssen wir das machen? Ja, nun aber, dann brauchen wir einen Namen? Ich habe einen …“ Bach hat doch ’29 – ich weiß es jetzt nicht auswendig, du, ich muss so…, mein Gedächtnis ist im Eimer – die Leitung des Bachischen …, des Collegium …, des Telemannschen Collegium Musicum – es gab zwei Collegia musica: das Görnersche von der neuen Kirche und das Telemannsche –, so, und das hat Bach übernommen. Und da hab ich ihm nur gesagt: „Wissen sie, ich komm’ nach Leipzig, aber kontaktieren sie sich schon mal immer mit Pommer, und Pommer kam dann auf die Idee „Bachisches Collegium Musicum“, aber wir sind ja nicht mehr das bachische, sondern wir sind ein NEUES bachisches, und das war natürlich ein nicht sehr werbeträchtiger Name, und dann kam noch Masur: „Ich gebe nur die Einverständnis, wenn dahinter steht in Klammern: Mitglieder des Gewandhausorchesters!“ Ja, guck dir die CDs … Mitglieder des Gewandhausorchesters … Leipzig hätte doch gereicht! Leipzig war doch im Grunde genommen ein Zugpferd! So, und damit war die Geburtsstunde des …, des Neuen Bachischen Collegium Musicum, ein Moment für Leipzig, für die Musikgeschichte Leipzigs eine Kehrtwende einzuleiten und sich weltweit zu präsentieren, [das] haben die gar nicht mitgekriegt, Grüß ja, und Schrammek! Die haben ja mitgezogen, bloß Grüß war mehr Wissenschaftler als Musiker. Die Leipziger haben bis heute noch nicht richtig begriffen, was sie hätten eigentlich damit erreichen können, nicht? Gut, und sie haben auf modernen Instrumenten gespielt, das muss ich noch mal …, das muss gesagt werden, weil die Gewandhausmusiker sagten, auf den alten Instrumenten kann man das gar nicht machen: „Was wir, wie die das machen, das wissen mir och nicht.“ Also, ich habe da Gespräche miterlebt, und Pommer kann es wunderbar auch schön nachsagen als Sachse, das war natürlich keine Basis gegeben, nicht? … eine solche Revolution zu machen, was in Wien mit den Wiener Symphonikern durchaus möglich war oder auch in Leipzig, in … Vor allen Dingen: Die haben ja die Oberböden der Schlösser und Kirchen durchwühlt nach alten Instrumenten, und sie hatten auch genug Geld! Es gab doch im Osten nichts! Wenn ich daran denke, wie die gejammert haben, hier die …, Lars, hilf mir mal, wie hießen die, hier in Berlin, die … alten Instrumente, die…

LK: Cembali meinen sie jetzt?

RB: Na ja, Geigen und so, das war doch eine Sammlung alter Instrumente, die Grundlage, also ihr müsst unbedingt, Lars, tu mir den Gefallen, Stephan Mai und eventuell auch der Burkhard Hilse, das waren, also Stephan Mai noch viel mehr, die kamen nämlich auf die Idee, was der Helmut Koch, Pischner damals gemacht haben, ein Kammerorchester zu bilden, die waren ja alle Musiker des Rundfunk-Sinfonieorchesters: „Machen wir!“ Nichts! Verboten! Die haben keine Unterstützung bekommen im Rundfunk. Da war doch die Seidowsky, diese rote Pflaume. Pfui!

LK: Ich würde fast sagen, wir können vielleicht sogar in einem zweiten Gespräch, also, was ich gerne machen würde, da an dem Punkt noch einmal fortsetzen.

RB: Ja.

LK: Mich interessiert ja auch insbesondere – das wäre dann wirklich für ein weiteres Gespräch –, wie das mit der Gründung der Akademie für Alte Musik Berlin war, wie das mit dem …

RB: Ich meine, kann ich schnell einen Satz noch beifügen?

LK: Ja.

RB: Ich wurde natürlich gefragt von meinem Direktor, also, toll, nicht? Als parteilose ‚Lusche‘ wurde ich befragt und (lacht) er sagt: „Wir brauchen dringend für die Berliner Musikgeschichte, damals, die …“ Na, wie heißt die? Die Musikwissenschaftlerin, die …

LK: Ingeborg Allihn?

RB: Ingeborg Allihn. Die zog unheimlich mit, und die konnte komischerweise mit Schaefer, vor allem, weil sie so attraktiv aussah, ich weiß es nicht. Und wir haben ja damals auch die Kowalski-Platte mit Berliner Musikgeschichte gemacht, das war mit das … auf die Schnelle nachgezogen werden. So was geht nicht auf Anhieb, wie die Partei sich das vorgestellt hat, aber das waren ja alles keine Künstler, waren ja alles nur Funktionäre! So, und, wo war ich hängen geblieben?

LK: Na, es ging um die die Gründung …

RB: Es ging um die Gründung. Die Akademie sollte untergeordnet werden irgendeinem Werk, nicht wahr? oder dem Kulturbund (lacht), und da hab ich gesagt: „Na, vielleicht dem Werk für Fernsehelektronik, dann sind die gleich im Bilde?“ Und, die haben natürlich kein Werk genommen, die sollten ja alle für Kultur was tun. Und im Grunde genommen nach Leipziger Vorbild, wäre die Humboldt-Universität, und das haben sie auch versucht, und da muss Stephan Mai dazu sagen. Gab es natürlich überhaupt kein Interesse. Für Alte Musik haben die ja heute noch kein Interesse. Ja, es ist, im Grunde genommen ein Elend, also hier, Humboldt-Universität, die anderen schon, nicht? Aber man kann nicht nur glücklich sein über Herrn [Kai-Uwe] Jirka, und Staats- und Domchor …

LK: Die …, gut das müssen wir jetzt nicht …, aber hast du mitbekommen, dass gerade dieser Prozess war, der ausgegangen ist?

RB: … nicht?

LK: Da hat eine Mutter einer Tochter …

RB: Ja, ja, ja, ja.

LK: … geklagt, und wollte, dass ihre Tochter da mitsingt im Staats- und Domchor …

RB: Ja, also die, na ja, man muss, es schreit manchmal zum Himmel, nicht? Ja, nun will ich dir noch am Schluss sagen, ich habe Herrn Schaefer zu verdanken, dass ich ein halbes Jahr bei der Nationalen Volksarmee für den Frieden der „Deutschen Demokratischen …“ gekämpft habe. Gekämpft hab ich nie, und zwar ’75 haute [Hans-Georg] Uszkoreit ab. Ist bekannt, nicht? Und in dem Moment, wo Uszkoreit abgehauen ist, hat Schaefer seine Stunde gespürt, dass er sozusagen der Brötchengeber der Klassik ist, als künstlerischer Leiter. Also: Bluth muss weg! Und er hat veranlasst, dass ich ein halbes Jahr außer Verkehr kam, und in der Zeit hat er mit dieser Frau – ach Lars, ich musste zu viel erzählen, widerlich –, die auch bei der Stasi war, Dinge gegen mich gesponnen und einige Kollegen. Nicht einige, einer hat mitgezogen, gegen mich, während ich bei der Armee war, ich konnte mich ja gar nicht wehren. Aber die Künstler haben zu mir gehalten, Schreier, [Theo] Adam, und Masur, muss ich sagen, und die konnten machen, was sie wollten, manchmal hat man Glück, aber dieses Mistvieh, um sozusagen sich selber in den Mittelpunkt zu stellen, er war sozusagen der Verhandlungsführer mit der Dresdner Staatskapelle, mit der Staatsoper und Pischner hat übrigens auch zu mir gehalten.

LK: Habt ihr den auch „HJ-Schaefer“ genannt?

RB: Ja, natürlich, na ja, er war ja, [Hans-Joachim] Schulze ist ja Kommilitone von Schaefer. Also, den Namen durfte ich nicht nennen bei Schulze, da ist der verrückt geworden. Schaefer ist am 17. Juni ’53 in die Hochschule: „Die Hochschule ist in Gefahr! Ich muss kämpfen darum, dass keiner eindringt in die …!“ Da hat Schulze gesagt: „Dreht der durch?“ Also, es ist schon …, und Hoke hat ja auf, war ja, nach West-Berlin als FDJler oder schon Partei …

LK: Der muss irgendwelche ganz geheimen Dinge da gemacht haben, im Parteiauftrag.

RB: Na ja …

LK: Irgendwas, was nicht rauskommen sollte. Jetzt würde ich sagen, machen wir mal Schluss, also fürs erste, und ja, vielleicht, wäre mein Wunsch, wir setzen das irgendwann fort.

Anmerkungen

  1. Siehe Lars Klingberg: „Herein mit J. S. Bach in die Nationale Front“. Anmerkungen zur „Deutschen Bach-Feier 1950“, in: Karl Heller und Andreas Waczkat (Hg.): Rudolf Eller zum Achtzigsten. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Prof. em. Dr. Rudolf Eller am 9. Mai 1994, veranstaltet vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Rostock im 60. Jahr seines Bestehens im 575. Jahr der Universität Rostock am 11. Mai 1994, Rostock 1994, 107–114, 109.
  2. Siehe Wolfram Iwer: Biografie im Dialog, in: Adele Stolte. „Ich bin vergnügt mit meinem Glücke“. Gesungen – gelebt – bewahrt, hg. vom Förderverein der Potsdamer Kantorei an der Erlöserkirche e. V., Potsdam 2007, 17–47, 32.
  3. Siehe Reinhard Szeskus (Hg.): Aufführungspraktische Probleme der Werke Johann Sebastian Bachs, Leipzig 1987.
  4. Siehe Hans Gunter Hoke: Studien zur Geschichte der „Kunst der Fuge“ von Joh. Seb. Bach, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 4 (1962), 81–129.

Autor:innen

Reimar Bluth

Zitierempfehlung

Lars Klingberg, Zeitzeugengespräche „Reimar Bluth“, in: Musikgeschichte Online, hg. von Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer, 2018ff. Stand vom 03.07.2023, online verfügbar unter https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/witnesses/reimar-bluth, zuletzt abgerufen am 25.04.2024.