Friedrich Goldmann

MT (Matthias Tischer): Eine erste ganz verwaltungstechnische Frage: Sie sind der letzte Schüler von Hanns Eisler, einer der mittleren Schüler von Wagner-Régeny und später mal ein Schüler von Paul Dessau? Ich verstehe überhaupt nicht, wie das zusammenhängt.

FG (Friedrich Goldmann): Das ist sehr gut … Also: Ich bin nie Schüler von Paul Dessau gewesen. Ich bin auch nicht Schüler von Hanns Eisler gewesen, sondern nur von Wagner-Régeny. Allerdings war es so: 1962, mit 21 Jahren, habe ich die Hochschule Dresden abgeschlossen und hatte mich an der Akademie beworben als Meisterschüler, und ich wollte zu Eisler gehen, war auch einmal bei Eisler, es hatte mich ein Bekannter dort hingebracht. Wie ich dann später erfuhr, hatte sich Eisler auch bereiterklärt, mich zu nehmen, aber es kam nicht dazu, er starb. Und wir haben dann den bösen Witz gemacht, Eisler sah eine Partitur von mir, und das hat er nicht überlebt. So schlimm war es nicht. Und da hing ich völlig in der Luft …

MT: Was war das für eine Partitur?

FG: Es war ein merkwürdiges Stück für Chor und Orchester. Also eigentlich: Ich fand es ziemlich schrecklich, macht aber nichts. Es gab dann diese Story – da wurden alle möglichen Legenden erzählt –, dass in der Sitzung in der Akademie der Künste, wo es darum ging, ob die Meisterschüler aufgenommen werden, Eisler sich entschuldigt hatte. Er hatte aber vorher gesagt: Also er nimmt den Goldmann, weil: Er hatte gleichzeitig wohl im Berliner Ensemble irgendeine Generalprobe (oder Probe, ich weiß nicht genau). Dort wurde es ihm schlecht, er fuhr nach Hause und setzte sich in den Sessel und starb. Und die Akademie – die Sitzung war noch im Gange – erfuhr davon, dass Eisler gestorben ist – also die übliche Gedenkminute –, und dann soll Paul Dessau gesagt haben (so wurde es mir mal berichtet, ob es stimmt, weiß ich nicht, und wenn, ist es gut erfunden): Es war Eislers letzter Wille, dass der Goldmann Meisterschüler wird. Und damit gab es keinen Widerstand mehr dagegen, dass ich Meisterschüler werden kann. Aber Dessau kannte ich länger, und das war einfach eine Abmachung zwischen ihm und mir, dass wir, obwohl ich ja Jahrzehnte jünger war, nicht in so eine Lehrer-Schüler-Beziehung eintreten. Und deswegen eben „Geh zu Eisler!“, und als der starb, hat sich Dessau dann gekümmert und hatte mir Wagner-Régeny vorgeschlagen. Wollte ich erst gar nicht, ich kannte auch gar nichts von ihm, nur die eine Bühnenmusik (Pauken und Trompeten), die ich ganz schön fand. Und Dessau hatte ich kennengelernt, auch persönlich, 1959. Da haben wir in Dresden in der Schule – das war noch vor dem Abitur – eine Schüleraufführung gemacht: ein Lehrstück von Brecht, „Die Ausnahme und die Regel“, Musik Paul Dessau. Und das habe ich da komischerweise dirigiert. Wie ich das gemacht habe, ist mir schleierhaft, denn ich hatte nichts mit Dirigieren am Hut, aber es ging irgendwie, und der Dessau kam tatsächlich zu dieser Aufführung, und da war ich außerordentlich interessiert. Ich hatte im Jahr zuvor ein Stück von ihm gehört (ich kannte wenig, also DDR war ja für mich nicht existent, ich lebte in Dresden, aber DDR gab es nicht, das war Dresdner Kreuzchor, das war so eine exterritoriale Gesellschaft; wir reisten im Westen herum und „DDR, was soll das?“), und ich hatte angefangen, mich für Neue Musik zu interessieren, eben so Sachen mit dem, was man damals eben ‚Darmstadt‘ nannte. Ich bin ja auch 1959 dann nach Darmstadt gefahren. Und da lernte ich von diesem DDR-Komponisten Dessau ein Orchesterstück kennen, das wurde in Dresden gespielt, „In memoriam Bertolt Brecht“, und das passte überhaupt nicht zu dem, was ich sonst aus der DDR kannte. Und das machte mir den Mann interessant und auch diese Bühnenmusik, „Die Ausnahme und die Regel“. Das ging ein bisschen anderes zu, als das, was man eben sonst in der DDR hörte. Von Eisler kannte ich nur die Bühnenmusik zu „Galilei“ von Brecht, und die fand ich damals schon nicht gut, auch heute nicht. Dann kannte ich „Neue deutsche Volkslieder“ und die Nationalhymne der DDR. Das war für mich kein Komponist, den gab es gar nicht, den habe ich erst später kennengelernt. Und Dessau war erstaunlich, der passte nicht ins Klischee. Und als ich ihn dann kennengelernte, fragte ich ihn auch, was er von Stockhausen halte. Und zu meiner Überraschung sagte der Nationalpreisträger und SED-Genosse Dessau, dass er ihn sehr interessant fände. Nanu? Und dann wurde er quasi belagert von allen anderen Leuten. Ich kam gar nicht dazu, mich mit ihm zu unterhalten, es war klar, alle wollten etwas von ihm, wieso nur ich. Und er hatte seine Frau mit. Na ja, was geht mich die Frau eines Komponisten an. Und die fragte aber dann im tiefsten Sächsisch, ob ich denn den Luigi Nono kennen würde. Und da war ich doch völlig verdattert: Wie kommt denn eine Frau eines Komponisten dazu, einen Namen wie Nono auszusprechen? „Nu, mit dem sind wir gut befreundet.“ Die Frau hieß Ruth Berghaus. Das sagte mir damals noch nichts. Und so kam diese Beziehung zustande. Also, da war ich 17. Das war, so komisch es klingt, einfach durch den Jahrzehnte-Altersunterschied, komisch, doch eher eine freundschaftliche Beziehung. Dessau hat sich wirklich um mich gekümmert und hat mich dann eingeladen. Und dann zeigte ich ihm Partituren, und das war immer ganz spannend. Dann hat er sich immer für mich eingesetzt. Auch wenn es eben zu DDR-Zeiten nicht so sonderlich gut ging. Das war einfach die Beziehung zu Dessau, also wie gesagt, nix offiziell Lehrer. Ebenso wie Bredemeyer, der war auch nicht Schüler von Dessau. Aber wir wurden immer als bessere Schüler gehandelt, das ist so.

MT: Nochmal die Zwischenstation Rudolf Wagner-Régeny: Was war das für ein Unterrichten oder Nicht-Unterrichten?

FG: Ja, das war ein postgraduales Studium, wie man sagt, also Meisterschüler in der Akademie. Ich hatte also meinen Hochschulabschluss, und der Unterricht fand statt jede zweite Woche eine Stunde bei ihm in der Wohnung in Berlin. Ich lebte in Dresden (in Adlerhof da draußen), und als ich das erste Mal zu ihm kam, war ich also sehr verängstigt. Ich kannte den Mann nicht, und ich klingelte, und da bellte irgendein Pudel, fürchterlich, und dann dauerte es lange, gar nichts, dann kamen Schritte gemessenen Ganges, eine Person, und dann ging die Tür auf, und da stand jemand in der Tür so richtig wie man das nach deutschen Klischees: „Ah, ein deutscher Professor tritt einem entgegen“. Und ich ganz schüchtern: „Ja, mein Name ist Goldmann“, und dann kam nach „Guten Tag“: „Ich trinke gerade Wein, trinken Sie auch Wein?“. Dann war ich noch mehr erschrocken, und da sagte ich: „Ja, selbstverständlich.“ Und dann trank ich Wein bei Wagner-Régeny, und das fand ich ganz nett. Später im Unterricht gab es meistens Kaffee, aber sie [Gerty] machte sehr guten Kaffee. Und was ich dann für Musik von ihm kennenlernte, das hatte mit dem, was mich interessierte, auch nicht sehr viel zu tun. Und ich hatte auch erst immer Angst: „Mein Gott, zeige ich ihm überhaupt so was?“ Und irgendwann habe ich das dann auch getan, und dann war es merkwürdig, wie er darauf reagierte. Also, überhaupt nicht: „Ach, was soll dieser Dreck“, was ich erwartet hatte, sondern er sah sich das ganz ernsthaft an, und ich hatte den Eindruck, er kann gar nichts damit anfangen. Aber irgendwo, wenn etwas ihm etwas doch so dünn, dürftig erschien, monierte er das, und er hatte meistens Recht. Also, die Gründe, die er dafür angab, das ist eine andere Frage. Aber eigentlich hatte er da einen ganz guten Blick dafür, ob etwas stimmig war oder nicht. Und das fand ich dann wieder ganz angenehm. Dann gab es noch eine andere Geschichte, die ich auch nicht vergesse: Er hat mich natürlich auch geleimt. Und zwar: Ich war ein lausiger Klavierspieler, einfach weil ich zu faul zum Üben war. Ich war ein guter Blattspieler, aber bloß nicht pianistisch, also wo man üben muss, bitte nichts. Und Wagner-Régeny leimte mich dergestalt, dass er nämlich sagte: „So, jetzt sind Sie Meisterschüler ein Jahr. Und die Akademie – Sie bekommen ja ein gutes Stipendium“ (das war so) – „erwartet nun, dass also jetzt Ergebnisse vorgestellt werden: Und man kann denen ja nicht nur einfach nur Noten schicken, also die Meisterschüler müssen alle selbst auftreten.“ Also, ich muss Stücke fürs Klavier schreiben, die ich auch selber spielen kann – was dann sehr komisch war, weil: Bei dem betreffenden Konzert kam dann einer mit einem Streichquartett. Also wie sollte er das selber spielen? Ich war natürlich so ziemlich der einzige, der sich dann selber ans Klavier setzte und selber was spielte. Und das war einfach ein Trick von ihm. Es sind zwei Stücke, die sind gar nicht so schlecht geworden, aber die wirklich daraufhin nur geschrieben waren, dass ich sie selber spielen kann. Das waren zwei Intermezzi für Klavier, und die wurden dann komischerweise so zehn Jahre später auch noch gedruckt: in irgendeiner Sammlung Klaviermusik der DDR. Und vor zwei Jahren bin ich denen wieder begegnet, als ausgerechnet einer meiner Studenten im Klavierunterricht diese zwei Intermezzi von Herrn Goldmann zu spielen hatte. Das fand ich schon sehr grotesk. Aber das war einer der Wagner-Régeny-Stories.

MT: Was mich verblüfft hat: Ich habe mir jetzt mal die aufgenommen Vorträge von Wagner-Régeny von der Leipziger Musikhochschule angehört, wo er in Anwesendheit von Rebling sich vehement für elektronische Musik einsetzt, sich vehement für ein allen Stilen offenes Komponieren einsetzt. Auf der anderen Seite, in seinen Tagebüchern der wunderbare Satz „mein serieller Herr Goldmann“ und das freundlichste, denkbare aber totales Unverständnis: „Schöne Klänge, aber warum komponiert der Mann nicht?“ Wie konnte so etwas Unterricht werden?

FG: Nein, was ich vorher schon sagte: Es ging eigentlich darum, ob er irgendwie bemerkte: Da ist irgendwas faul. Und das bemerkte er, und das war ganz gut so. Man kann es anders sagen. Der Bredemeyer (das klingt boshaft, ist aber, finde ich, ganz freundlich): „Wagner-Régeny, ein guter Lehrer. Ich habe nichts bei ihm verlernt.“ Es klingt nach Gag, aber es hat was davon, und Sie müssen einfach in Rechnung stellen: Es ist diese DDR-Situation. Es gab im Westen durchaus Verwandtes, also konservative Hochschullehrer en masse, das gibt es ja heute noch. Aber in der DDR, wo es wirklich eine (zu dieser Zeit) geradezu staatliche Lenkung gab, was sein darf, was nicht sein darf, da war ein Mann wie Wagner-Régeny eine wohltuende Figur, und das hatte man nicht erwartet, der hatte diese Offenheit, auch wenn es ihm selber nicht passte. Es gibt ja Texte von ihm, wenn man das liest, das ist so eine (ach, du lieber Schreck) Mischung aus Rilke, Heidegger und was weiß ich was, obwohl er mit Brecht gearbeitet hatte, und damit hat es gerade fast überhaupt nichts zutun. Und es ist manches Mal so grotesk. Natürlich ist ihm das, was uns damals beschäftigte eher zutiefst fremd geblieben, völlig klar. Aber das macht ja nichts. Also, ich finde ja gerade, man reibt sich doch als junger Mensch auch gerade mit Älteren, man muss ja nicht immer einer Meinung sein. Wenn ich immer nur einer Meinung wäre mit meinen Studenten, was die anbringen, das wäre ja langweilig. Und das war durchaus auch, so gesehen, ein Aspekt des Unterrichts bei Wagner-Régeny. Und man konnte mit ihm über sonstwas reden, also er war wirklich kein engstirniger Typ, also auch wenn man seine Meinung nicht teilte, aber man konnte natürlich mit Wagner-Régeny über (ach, du lieber Schreck) Gott und die Welt reden, und das fand dann eben auch statt. Unterricht im Sinne des „Jetzt gehen wir eine Partitur durch.“. Das war manches Mal nur kurz. Und ich war auch nicht so ein Fleißtyp, der dann sich selbst vornimmt, dem Lehrer …, aber wenn wir schon bloß alle zwei Wochen da sind …, aber jetzt gibt es einen Stapel von mindestens 20 Partiturseiten. Manches Mal hab ich gesagt: „Tut mir leid, also ich beschäftige mich mit etwas, weiß aber gar nicht wohin. Und ich kann heute gar nichts vorweisen.“ Also, das kam auch vor. Und ich verlange auch von meinen Studenten nicht, dass sie nun jede Woche ein Stück anbringen. Es gibt wirklich immer, ja, die schöpferische Pause oder auch mal das produktive Gammeln. Als Wissenschaftlicher darf man das wahrscheinlich nicht, als Künstler muss man es manchmal machen. Und das war, wie gesagt, bei Wagner-Régeny eigentlich kein Konfliktstoff. Im Gegenteil: Das ging immer gut.

MT: Liefen die freundschaftlichen Besuche bei Dessau und der Unterricht bei Wagner-Régeny parallel?

FG: Manchmal ja. Und das war komisch. Es gibt ja bei Dessau in diesen Bachvariationen zwei Stücke nach Vorlagen: eine von Wagner-Régeny und eine von Goldmann. Er hat zunächst dem Wagner-Régeny nichts davon gesagt, dass er mir eine gibt, und er hat auch mir nichts gesagt, dass er Wagner-Régeny eine gibt. Das war in dem Fall ein bisschen komisch, das war genau die Zeit, wo ich Schüler bei Wagner-Régeny war. Und das war so eine etwas merkwürdige Situation, was dann rauskam.

MT: Woran mag das gelegen haben, diese Zusammenarbeit mit Ihnen und mit Wagner-Régeny? Wagner-Régeny steckte gerade, war er gerade ‚tot‘, öffentlich soweit ich weiß zu der Zeit?

Autor:innen

Friedrich Goldmann

    Zitierempfehlung

    Matthias Tischer, Zeitzeugengespräche „Friedrich Goldmann“, in: Musikgeschichte Online, hg. von Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer, 2018ff. Stand vom 27.06.2023, online verfügbar unter https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/witnesses/friedrich-goldmann, zuletzt abgerufen am 20.04.2024.