Zensur und Selbstzensur

Zum Zensurbegriff

Die Verwendung des Begriffs „Zensur“ zur Bezeichnung des Systems der Konformisierung und Funktionalisierung der Künste in der DDR ist problematisch, da es sich bei diesem System nicht um Zensur im klassischen Sinne handelte.1Die Darstellung folgt weitgehend den Gedankengängen und Formulierungen in zwei meiner früheren Publikationen: Überlegungen zur Zensur in der DDR vor dem Hintergrund der Totalitarismustheorie, in: Detlef Altenburg und Peter Gülke (Hg.): Autonomie und Lenkung. Die Künste im doppelten Deutschland. Bericht über das Symposion der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, der Sächsischen Akademie der Künste und des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Leipzig, 4. bis 6. April 2013, Stuttgart und Leipzig 2016 (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philosophisch-historische Klasse, Bd. 84, Heft 1), 59–63; Kontrollinstanzen im Musikleben der DDR, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa 21 (2019), 49–83, 62–64. Es ging vielmehr über „Zensur“ hinaus und ließ einen auf Totalität angelegten Anspruch erkennen. Es erreichte jedoch in seiner Gesamtheit keine totalitären Dimensionen.

Vielleicht sollte von Zensur überhaupt nur dann gesprochen werden, wenn eine Voraussetzung vorliegt, die in der DDR fehlte oder bestenfalls nur eingeschränkt vorhanden war: eine prinzipiell selbstbestimmte Kunst auf der Grundlage einer prinzipiell autonomen, d. h. selbstbestimmten und selbstorganisierten Gesellschaft. Unter solchen Voraussetzungen wäre Zensur als Einschränkung von Freiheit zu verstehen. Wenn Zensur die Einschränkung von etwas Selbstbestimmtem ist, wäre es allerdings absurd, auch dann noch von Zensur zu sprechen, wenn es Selbstbestimmung gar nicht gibt. Klassischerweise besteht die Tätigkeit eines Zensors darin, dem Künstler bestimmte Äußerungen zu verbieten – aber nicht darin, ihm seine Aufgabe und seine Stilmittel vorzuschreiben. Die lediglich als Nachzensur betriebene Zensur im wilhelminischen Deutschland beispielsweise ging gegen Kunstwerke vor, die sie für sittenwidrig hielt. Nie aber hätte sie es als ihre Aufgabe angesehen, Stilmittel der Moderne, wie abstrakte Kunst oder atonale Musik, zu verbieten und einen bestimmten Stil für den einzig zulässigen zu erklären.

Es ist daher mindestens problematisch, wenn – wie es in der Forschung oft geschieht – die kunstlenkenden Staatsorgane der DDR – die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten und das Amt für Literatur und Verlagswesen sowie später das Ministerium für Kultur – als „Zensurbehörden“ bezeichnet werden. Denn deren wichtigste Tätigkeit bestand eben nicht, wie bei der klassischen Zensur, im Verbot der Veröffentlichung von Kunstwerken, sondern im (selektiven) Erlauben derselben. Jedenfalls traf das für die Publikation von Büchern zu. Streng genommen gab es deshalb in der DDR keine Bücherverbote, denn der Staat hat diejenigen Bücher, die er nicht veröffentlicht sehen wollte verboten, er hat vielmehr das Gegenteil getan: Er hat Bücher erlaubt. Er hat bestimmte Bücher vom Verbot ausgenommen. Wenn ein Verlag ein Buch herausbringen wollte, musste er ein aufwändiges Druckgenehmigungsverfahren beantragen, von dessen Ergebnis dann abhing, ob das Buch gedruckt werden konnte oder nicht.

Ein solcher eher engerer Zensurbegriff ist z. B. auch im Handbuch zur deutsch-deutschen Wirklichkeit von 1988 (bzw. der Vorgängerpublikation von 1983) verwendet worden, worin Zensur definiert wird als „Ausschluß oder Modifikation bildlicher, schriftlicher oder verbaler Aussagen, soweit sie zu politischen, rechtlichen oder moralischen Normen in einen Widerspruch geraten“.2Bernd Weyergraf und Peter Lübbe: Art. „Zensur“, in: Wolfgang R. Langenbucher, Ralf Rytlewski und Bernd Weyergraf (Hg.): Handbuch zur deutsch-deutschen Wirklichkeit Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik im Kulturvergleich, Stuttgart 1988 [Reprint der 1983 unter dem Titel „Kulturpolitisches Wörterbuch Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik im Vergleich“ erschienenen Erstausgabe], 763–765, 763. Zensur betrifft demnach nur die Abweichung von einer Norm, nicht aber die Norm selbst, die Konstituierung der Norm. In den sozialistischen Ländern war aber gerade das Vorhandensein eines den Künsten auferlegten universellen, für alle Beteiligten verbindlichen Normensystems das wesentliche Merkmal der kulturpolitischen Verhältnisse gewesen. Bekanntlich hieß dieses System lange Zeit ‚Sozialistischer Realismus‘, später gab es auch andere Bezeichnungen.

War die Kunstlenkung in der DDR totalitär?

Von einer Kunstlenkung dieser Dimension kann nur gesprochen werden, wenn sie mehr ist als Zensur (im engeren Sinne), also mehr ist als Kontrolle und Verbot, wenn sie viel früher ansetzt – und wirksam wird, noch bevor Kunst entsteht, wenn sie Kunstnormen definiert und diese Normen bei den Künstlern und anderen Akteuren des künstlerischen Lebens durch Erziehung verankert.

Für all das finden sich in der Geschichte der Kulturpolitik der SED entsprechende Nachweise, am deutlichsten wohl 1951 mit der Etablierung der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten und des Amtes für Literatur und Verlagswesen. Dennoch möchte ich bezweifeln, dass diese Lenkung wirklich jemals totalitäre Dimensionen erreicht hatte. Es hätte dazu ein totalitär ausgerichtetes Gesamtsystem der Steuerung der Künste geben müssen, das aber wohl von der SED niemals wirklich intendiert war.

Aber schon dem Normensystem selbst fehlten die totalitären Dimensionen. So wenig schlüssig wie dieses System insgesamt konstruiert war, so wenig konsequent wurde auch seine Durchsetzung betrieben. Was ‚Sozialistischer Realismus‘ ist, stand nie genau fest, zumal immer wieder betont wurde, es handele sich um keinen Stil, sondern um eine Methode, und von Anfang an fehlte dieser Doktrin ein wichtiges Merkmal des Totalitären: die absolute Gültigkeit der Norm, die jede Abweichung ausschließt.

Der Musikwissenschaftler Michael Berg interpretierte vor einigen Jahren die Beschlüsse der ersten „Bitterfelder Konferenz“ von 1959 als Versuch der „totalen ideologischen Gleichschaltung“ und Todeserklärung für alle reflektierende und autonome Kunst. „Wäre es in der Tat nach den Funktionären des ‚Bitterfelder Weges‘ gegangen“, so folgerte er, würde die Musik „als selbständige, d. h. als eine nichtfunktionale Kunst zu existieren aufgehört haben“.3Michael Berg: Restriktive Ästhetik als kreative Chance, in: ders., Knut Holtsträter und Albrecht von Massow (Hg.): Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst. Ästhetisches und politisches Handeln in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2007, 177–191, 186; vgl. ders.: Musik und Diktatur. Vorüberlegungen zum Entwurf einer Geschichte der Musik in der DDR, in: ders.: Materialien zur Musikgeschichte der DDR, Weimar 2001, 7–38, 24. (Natürlich betrifft diese von Berg mit Blick auf die Musik formulierte Folgerung auch alle anderen Künste.) Vermutlich hatte jedoch die Kulturpolitik damals jene totalitäre Perspektive, die ihr Berg unterstellt, nicht im Blick gehabt, geschweige denn zur Grundlage eines entsprechenden Masterplans gemacht. Zu keiner Zeit war in den sozialistischen Staaten ein Zensurprinzip voll ausgebildet, das der bulgarische Dissident Assen Ignatow in den 1980er Jahren „negative Garantie“ nannte und das er folgendermaßen definierte:

  • „Die kommunistische Zensur besitzt Merkmale, die wesentliche Unterschiede zu der faschistischen und rechten Zensur aufweisen. Indem die Zensur der anderen Diktatur nur das untersagt, was in einem direkten Gegensatz zu dem Regime und seiner Ideologie steht, so untersagt die kommunistische Zensur das, was sich von den festgesetzten Normen bloß unterscheidet. […] Während unter allen anderen Regimes das was nicht verboten ist, erlaubt ist, so ist unter dem Kommunismus all das verboten, was nicht erlaubt, besser: nicht angeordnet ist.“4Assen Ignatow, Psychologie des Kommunismus. Studien zur Mentalität der herrschenden Schicht im kommunistischen Machtbereich, München 1985, 91 f.

Diese Definition beschreibt gewiss ein von den Machthabern herbeigewünschtes Ideal. Doch noch nicht einmal in Stalins Sowjetunion hat der Staat jene Kontrolle ausgeübt, „von der die Totalitarismustheoretiker sprachen“, wie der Historiker Jörg Baberowski konstatierte.5Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004, 9. Das Regime trug jedoch, so Baberowski weiter, „seinen Anspruch, sie zu verwirklichen, in die Gesellschaft. Im Versuch, diesen totalen Anspruch durchzusetzen, wurde die öffentliche und private Sphäre neu eingerichtet und nach repressiven Prinzipien geordnet.“6Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004, 10. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009, 7. Siehe hier auch Tischers Reflexionen dazu für die Musikverhältnisse der DDR.

Das trifft meines Erachtens auch für unsere Fragestellung den entscheidenden Punkt. Seit längerem schon ist von der Forschung gegen die Totalitarismustheorie eingewandt worden, dass die aus ihr folgende Sichtweise mit der Gefahr verbunden sei, zwischen dem totalitären Anspruch des jeweiligen Regimes einerseits und der Realität andererseits nicht genügend zu differenzieren. Die Vorstellung, die DDR-Gesellschaft sei von der SED sozialstrukturell homogenisiert, ja „gleichsam stillgelegt“ worden,7So Sigrid Meuschel: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), 5–14, 6. mag aus soziologischer und systemtheoretischer Sicht einleuchten und eine gewisse Faszinationskraft haben, sie würde aber nur unter der unzulässigen Annahme zutreffen, dass die Gesellschaft sich stets in Übereinstimmung mit der ihr vom Regime zugewiesenen Rolle befunden8Vgl. z. B. Jörg Baberowski: „Verwandte Feinde? Nationalsozialismus, Stalinismus und die Totalitarismustheorie“ [über Carl J. Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957], in: Jürgen Danyel, Jan-Holger Kirsch und Martin Sabrow (Hg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, 52–60, 55. und keinerlei ‚Eigensinn‘ entwickelt hätte. Denn wie der Historiker Ralph Jessen anmerkte, vernachlässigt die totalitarismustheoretische Perspektive den „subsystemischen Eigensinn“ der sozialen Welt.9Ralph Jessen: Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 96–110, 107.

Wie sehr beispielsweise im Musikleben der DDR „Eigensinn“ die von ‚oben‘ intendierten Homogenisierungsabsichten konterkarierte, lässt sich an den letztlich erfolglos gebliebenen Versuchen zur Gleichschaltung der Musikkritik zeigen. Kritiker, die gegen die sozialistisch-realistische Norm verstießen, mussten zwar damit rechnen, zurechtgewiesen zu werden, mir ist aber kein einziger Fall bekannt, dass einer von ihnen mit Berufsverbot belegt worden wäre. Bis zuletzt behielt so in der DDR die Musikkritik im Prinzip ihr bürgerlich-feuilletonistisches Gepräge (→ Musikkritik).

Anmerkungen

  1. Die Darstellung folgt weitgehend den Gedankengängen und Formulierungen in zwei meiner früheren Publikationen: Überlegungen zur Zensur in der DDR vor dem Hintergrund der Totalitarismustheorie, in: Detlef Altenburg und Peter Gülke (Hg.): Autonomie und Lenkung. Die Künste im doppelten Deutschland. Bericht über das Symposion der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, der Sächsischen Akademie der Künste und des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Leipzig, 4. bis 6. April 2013, Stuttgart und Leipzig 2016 (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philosophisch-historische Klasse, Bd. 84, Heft 1), 59–63; Kontrollinstanzen im Musikleben der DDR, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa 21 (2019), 49–83, 62–64.
  2. Bernd Weyergraf und Peter Lübbe: Art. „Zensur“, in: Wolfgang R. Langenbucher, Ralf Rytlewski und Bernd Weyergraf (Hg.): Handbuch zur deutsch-deutschen Wirklichkeit Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik im Kulturvergleich, Stuttgart 1988 [Reprint der 1983 unter dem Titel „Kulturpolitisches Wörterbuch Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik im Vergleich“ erschienenen Erstausgabe], 763–765, 763.
  3. Michael Berg: Restriktive Ästhetik als kreative Chance, in: ders., Knut Holtsträter und Albrecht von Massow (Hg.): Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst. Ästhetisches und politisches Handeln in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2007, 177–191, 186; vgl. ders.: Musik und Diktatur. Vorüberlegungen zum Entwurf einer Geschichte der Musik in der DDR, in: ders.: Materialien zur Musikgeschichte der DDR, Weimar 2001, 7–38, 24.
  4. Assen Ignatow, Psychologie des Kommunismus. Studien zur Mentalität der herrschenden Schicht im kommunistischen Machtbereich, München 1985, 91 f.
  5. Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004, 9.
  6. Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004, 10. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009, 7. Siehe hier auch Tischers Reflexionen dazu für die Musikverhältnisse der DDR.
  7. So Sigrid Meuschel: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), 5–14, 6.
  8. Vgl. z. B. Jörg Baberowski: „Verwandte Feinde? Nationalsozialismus, Stalinismus und die Totalitarismustheorie“ [über Carl J. Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957], in: Jürgen Danyel, Jan-Holger Kirsch und Martin Sabrow (Hg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, 52–60, 55.
  9. Ralph Jessen: Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 96–110, 107.

Autor:innen

Erwähnt in

Vorstandssitzung des Schriftstellerverbandes der DDR in BerlinX. Schriftstellerkongress der Deutschen Demokratischen Republik in Berlin

Zitierempfehlung

Lars Klingberg, Artikel „Zensur und Selbstzensur“, in: Musikgeschichte Online, hg. von Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer, 2018ff. Stand vom 14.09.2022, online verfügbar unter https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/topics/zensur-und-selbstzensur, zuletzt abgerufen am 19.04.2024.