Kybernetik/System

Zusammenfassung

Auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 wurde eine grundlegende Kursänderung der Wirtschaftspolitik beschlossen, die den Namen „Neues ökonomisches System der Planung und Leitung“ (NÖSPL), später auch kurz „Neues ökonomisches System“ (NÖS) erhielt. Hauptziel des NÖSPL war eine Modernisierung und Rationalisierung des Wirtschaftssystems zum Zweck einer Effektivierung der Volkswirtschaft. Mit der Schaffung eines wissenschaftlich fundierten Systems der Steuerung und Leitung sollten die Effizienz und die Produktivität gesteigert werden. Damit verbunden war eine Dezentralisierung, eine relative Selbständigkeit der Betriebe gegenüber Partei und Staat. Von 1967 an wurden die Reformbemühungen modifiziert und trugen nun die Bezeichnung „Ökonomisches System des Sozialismus“ (ÖSS) oder auch „Entwickeltes gesellschaftliches System des Sozialismus“ (ESS), um zu signalisieren, dass die SED bei allem Bemühen um ökonomisch-technische Effizienz ihren Führungsanspruch und den Primat der Ideologie nicht in Frage stellte.1Siehe dazu Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erweiterte Neuausgabe, Leipzig 1996, 184 f.; auch erschienen als digitale Ausgabe (Berlin 2004, Digitale Bibliothek Sonderband) und als seitenidentische Lizenzausgabe (Berlin 2000).

Kybernetikwelle

Von diesem Neuen Ökonomischen System sollten im Lauf der folgenden Jahre wichtige Impulse auf alle anderen gesellschaftlichen Bereiche einschließlich der Wissenschaften und Künste ausgehen. Insbesondere etablierte die SED die neue Wissenschaft Kybernetik, was nicht zuletzt durch den inflationären Gebrauch des Begriffs des „Systems“ zum Ausdruck kam. Heiner Müller sprach von der Kybernetik nachträglich gar als zeitweisen „Religionsersatz für Funktionäre“,2Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992, 239. Manfred Wekwerth vom „Kybernetikschock, wo wir merkten: Das ist gar keine Pseudowissenschaft, sondern unsere Zukunft, und zwar nicht nur für die Wissenschaftler, sondern auch für Erkenntnisse biologischer, menschlicher Prozesse, Prozesse des menschlichen Zusammenlebens in der Gesellschaft.“3Manfred Wekwerth: Diskussionsbeitrag auf der Plenartagung der Akademie der Künste vom 24. 10. 1985 („Funktion und Niveau der Unterhaltung in den Künsten“), Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Zentrales Akademiearchiv, 1683, Bl. 121. Dies ging vor allem auf den Philosophen Georg Klaus zurück, der die Kybernetik als wissenschaftliche Theorie der „dynamischen Systeme“ – gleichgültig, ob es sich um biologische, physikalische oder gesellschaftliche Systeme handelt – definierte.4Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erweiterte Neuausgabe, Leipzig 1996, 185; auch erschienen als digitale Ausgabe (Berlin 2004, Digitale Bibliothek Sonderband) und als seitenidentische Lizenzausgabe (Berlin 2000). Klaus hatte es geschafft, die moderne Logik „bei den Anhängern des dialektischen Materialismus hoffähig“ zu machen, sodass die Kybernetik als neue Wissenschaftsdisziplin in das bestehende Wissenschaftssystem der DDR eingegliedert werden konnte.5Norbert Kapferer: Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945–1988, Darmstadt 1990, 216. Vgl. Guntolf Herzberg: Das Ende der DDR-Philosophie: Nachdenken, Distanz und Neubesinnung. Ein Überblick, in: ders.: Aufbruch und Abwicklung. Neue Studien zur Philosophie in der DDR, Berlin 2000, 114–221, 163. In „strategischen Arbeitskreisen“ wurde in der Zeit von 1963 bis 1967 über Kybernetik, Modelltheorie, Praxeologie, Operationsforschung etc. nachgedacht; man gründete eine Akademie für „Marxistisch-Leninistische Organisationswissenschaft“ und forschte über solche futuristische Themen wie „komplexe Systemautomatisierung in Großvorhaben“ oder über „Fließverfahrenszüge“.6Gunnar Decker: 1965. Der kurze Sommer der DDR, München 2015; Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung Bonn 2015, 24. Dass die Kybernetik auch populärwissenschaftlich verbreitet und rezipiert wurde, zeigt das 1966 erschienene, von Georg Klaus und Heinz Liebscher verfasste, leicht verständliche Buch Was ist, was soll Kybernetik?, von dem innerhalb weniger Jahre mehrere Auflagen gedruckt wurden. 1974 kam in der DDR bereits die neunte, überarbeitete und ergänzte Auflage heraus, 1970 wurde eine Lizenzausgabe für die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin publiziert, 1971 erschien die polnische Übersetzung. Das Buch hat somit eine Gesamtauflage von 100.000 Exemplaren.7Heinz Liebscher: Fremd- oder Selbstregulation? Systemisches Denken in der DDR zwischen Wissenschaft und Ideologie, Münster 1995, 25.

Antikybernetische Wende

Dem NÖSPL/ÖSS/ESS war nur eine kurze Phase in der Geschichte der DDR beschieden. Spätestens nach der Machtübernahme durch Erich Honecker 1971 nahm die SED von dem Konzept Abschied. Davon betroffen war auch die Kybernetik, die nunmehr lächerlich gemacht wurde; die entsprechende Forschung wurde gestoppt.8Gunnar Decker: 1965. Der kurze Sommer der DDR, München 2015; Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung Bonn 2015, 26.

Die „antikybernetische Wende“9Heinz Liebscher: Fremd- oder Selbstregulation? Systemisches Denken in der DDR zwischen Wissenschaft und Ideologie, Münster 1995, 69. wurde auf der 10. Tagung des ZK der SED am 28. und 29. April 1969 eingeleitet. Kurt Hager, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK, wandte sich in seinem Referat gegen „eine Tendenz zur Vereinfachung der Problematik“, die sich daran zeige, „daß die Gesellschaft und ihre Teilsysteme als kybernetische Systeme betrachtet und analysiert werden und dabei […] von der materiellen, sozialen, klassenmäßigen Natur der untersuchten Systeme abstrahiert wird“. Bei einer solchen Analyse würden „der spezifische Inhalt der sozialen Prozesse, ihr Klassencharakter nicht oder nicht ausreichend erfaßt“.10Grundfragen des geistigen Lebens im Sozialismus. Referat des Genossen Kurt Hager, Mitglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees, in: Neues Deutschland, Berliner Ausgabe, 24. Jg., Nr. 118 vom 30. April 1969, 3–8, 6.

Im Anschluss an das 10. Plenum wurde, so Heinz Liebscher, ein „Bannfluch“ wider die Kybernetik verhängt, in der man eine „zumindest theoretische Vorbereitung für eine konterrevolutionäre Untergrabung des Sozialismus“ vermutete.11Heinz Liebscher: Fremd- oder Selbstregulation? Systemisches Denken in der DDR zwischen Wissenschaft und Ideologie, Münster 1995, 55. Der Philosoph Guntolf Herzberg vermutet als Grund für das Ende der Kybernetik-Euphorie die von Kurt Hager initiierte Verschärfung der Positivismuskritik seit dem Ende der 1960er Jahre. Hager und das Politbüro seien damals zu der Position gelangt, „daß das Modell der Selbstorganisation jeder zentralistischen Steuerung durch eine Politbürokratie widersprach“.12Guntolf Herzberg: Das Ende der DDR-Philosophie: Nachdenken, Distanz und Neubesinnung. Ein Überblick, in: ders.: Aufbruch und Abwicklung. Neue Studien zur Philosophie in der DDR, Berlin 2000, 114–221, 163. Doch die „Ernüchterungsphase“13Peter Gudermuth und Werner Kriesel: Kybernetik und Weltanschauung. Probleme, Streitfragen und Ergebnisse der modernen Kybernetik, Leipzig u. a. 1973, 128. mit Blick auf die Kybernetik umfasste jenseits des Politbüros auch weitere Kreise; nunmehr galt diese weithin als „Einzelwissenschaft und keine Universalwissenschaft oder gar Philosophie.“14Peter Gudermuth und Werner Kriesel: Kybernetik und Weltanschauung. Probleme, Streitfragen und Ergebnisse der modernen Kybernetik, Leipzig u. a. 1973, 132.

Auf der 14. ZK-Tagung im Dezember 1970 wurde schließlich die gesamte NÖS-Politik beendet. Kurt Hager erklärte später, der Grund für diese Entscheidung sei nicht, wie von Befürwortern und Aktivisten der NÖS behauptet, „der Widerstand der ‚Reformgegner‘ sowie ‚jener der Reform überdrüssigen Politbüro- und ZK-Mitglieder‘“ gewesen, sondern „die Weigerung der Sowjetunion unter Breshnew, diese Veränderung der Wirtschaftspolitik mitzumachen und das Entstehen ernster Disproportionen in der Wirtschaft, die Ende der 60er Jahre ihre Auswirkungen zeigten“.15Kurt Hager: Erinnerungen, Leipzig 1996, 301 f.

Kybernetik in den Künsten

Die kybernetische Welle wurde vielfach in den Künsten, darunter auch in der Musik versucht, fruchtbar zu machen. So definierte etwa der linientreue Musikkritiker und -funktionär Hansjürgen Schaefer in seiner Eigenschaft als Chefredakteur der Zeitschrift Musik und Gesellschaft:

„Der gesellschaftliche Zweck der Musik in seiner Funktion stellt sich als Wechselwirkungssystem, kybernetisch gesprochen als System von Rückkoppelungen, dar. Denn eine sinnvolle Funktion der Musik in der Gesellschaft ist nicht möglich, wenn nicht Wirkung von Musik auf Hörer und Einflußnahme vom Hörer auf die Musik sich dialektisch ergänzen, ‚einregeln‘“.16Hansjürgen Schaefer: Moderne Kunst – sozialistische Kunst. Gedanken nach der 11. Tagung des ZK der SED, in: MuG 16 (1966), 73–78 und 145–147, 147. Vgl. Michael Berg: Ambivalenzen eines noch nicht vollends geklärten Geschehens, in: ders., Albrecht von Massow und Nina Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, Köln u. a. 2004, 1–21, 13 f.

Die nach 1963 von der SED unternommenen Versuche, die Prinzipien des NÖSPL auf die Kultur zu übertragen, ließen den Musikwissenschaftler Michael Berg die These aufstellen, dass diese Entwicklung „unmittelbar eine für das Gebiet der Musik noch zu untersuchende Dynamisierung des Geschehens“ zur Folge gehabt haben könnte, die sich ab den 1970er Jahren in der Ernsten Musik mit der Etablierung avancierter Kompositionstechniken manifestierte.17Michael Berg: Ambivalenzen eines noch nicht vollends geklärten Geschehens, in: Michael Berg, Albrecht von Massow und Nina Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2004 (= KlangZeiten 1), 1–21, 12 f. Konkret betrifft dies die Idee der Widerspiegelung, die durch Einführung kybernetischer Denkweisen eine Modifikation erfährt.18Vgl. hierzu auch Emmerich, der hier insbesondere den Ästhetiker Horst Redeker anführt: „Für Redeker u. a. ist Widerspiegelung nicht mehr bloß stoffliche Mimesis, sondern (ästhetische) Widerholung strukturaler Prozesse der Wirklichkeit.“ Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erweiterte Neuausgabe, Leipzig 1996, 190; auch erschienen als digitale Ausgabe (Berlin 2004, Digitale Bibliothek Sonderband) und als seitenidentische Lizenzausgabe (Berlin 2000). Auch die Rolle des Rezipienten im Rahmen ästhetischer Prozesse ist hier gestärkt. So steht nunmehr weniger der Gedanke einer direkten Abbildhaftigkeit der Musik im Vordergrund, sondern vielmehr geraten indirekt bestimmbare musikalische Prozesse in den Fokus; auch das musikalische System reguliert sich demnach – wie das ökonomische – selbst. Auch wenn ein Zusammenhang zwischen kybernetischer Theoriebildung und der vermehrten politischen Akzeptanz ‚avantgardistischer‘ klanglicher Mittel zunächst ein hypothetischer ist, so finden sich doch mehrere Hinweise, dass ein Konnex zwischen modifizierter ästhetischer Theorie, Konzentration der staatlichen Lenkung von Kultur auf wenige Schaltstellen und größerer Freiheit in kompositorischer Hinsicht besteht.19Vgl. hierzu auch Nina Noeske: Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR, Köln u. a. 2007, 21 f. Ob dabei Kultur ein „Teilsystem“ innerhalb der Gesellschaft darstellt oder ob diese, wie der Kulturfunktionär Alexander Abusch 1971 während einer Plenartagung der Akademie der Künste kritisch anmerkte, letztlich „alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens, des menschlichen Lebens in einer sozialistischen Gesellschaft durchdringt“20Alexander Abusch: Diskussionsbeitrag auf der Plenartagung am 28. 9. 1971 („Die Aufgaben der DAK nach dem VIII. Parteitag der SED im Zusammenhang mit der langfristigen Planung ihrer Arbeitsaufgaben“), Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Zentrales Akademiearchiv, 657, Bl. 85. – womit er der These der Selbstregulierung widersprach – war umstritten.

Naturwissenschaftliche Methoden in der Musikwissenschaft

In der Musikwissenschaft war der seit 1959 an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Georg Knepler, ein Musikwissenschaftler, der neuen wissenschaftlichen Entwicklungen gegenüber sehr aufgeschlossen gegenüberstand, der Pionier dieser wissenschaftlichen Modeerscheinung. Von der Kybernetik und anderen naturwissenschaftlichen Methoden erwartete Knepler revolutionierende Ergebnisse für das eigene Fach. Das lässt sich seinen eigenen Äußerungen aus dieser Zeit entnehmen. Schon 1962 glaubte er, dass die Musikwissenschaft „an der Schwelle einer neuen Zeit“ stünde, und er prognostizierte, dass „die neuesten Errungenschaften der Naturwissenschaft und der Technik, der Informationstheorie und der Kybernetik“, „von marxistisch geschulten Theoretikern studiert, ausprobiert und verwertet“, „revolutionäre Folgen“ haben würden. Durch „Anwendung der Methoden der Statistik, der Informationstheorie und der Wahrscheinlichkeitsrechnung“ ließe sich „bestimmten Gesetzmäßigkeiten der Musik auf die Spur kommen“.21Georg Knepler: Die Aufgaben der Musikwissenschaft, in: MuG 12 (1962), 642–644, 643. Die Anregung zu kybernetischen und semiotischen Untersuchungen erhielt Knepler von dem in der DDR lebenden Schweizer Musikwissenschaftler Harry Goldschmidt, der einen kleinen Kreis von Fachleuten zum Austausch über Semiotik, Kybernetik und Systemtheorie organisiert hatte.22Georg Knepler: Mein Freund Harry, in: Hanns-Werner Heister (Hg.): Kunstwerk und Biographie. Gedenkschrift Harry Goldschmidt, Berlin 2000, 13–19, 13. Vgl. Gerhard Oberkofler und Manfred Mugrauer: Georg Knepler. Musikwissenschaftler und marxistischer Denker aus Wien, Innsbruck, Wien und Bozen 2014, 359.

Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977 (= Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 725), Cover

Kneplers eigene Beschäftigung in dieser Richtung sollte sich später in seinem Buch Geschichte als Weg zum Musikverständnis manifestieren.23Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977, 2., überarbeitete Auflage 1982. Knepler plädierte darin für die Einbeziehung anderer Wissenschaftsdisziplinen, um zu einem tieferen Verständnis der Musik zu kommen: „Ein rundes halbes Dutzend sehr spezialisierter und nicht auf Musik ausgerichteter Disziplinen müssen herangezogen werden, um die Lücke zu schließen.“24Ebd., 21. Knepler erhoffte sich von Disziplinen wie Biologie, Sprach- und Kommunikationswissenschaft bedeutende Erkenntnisgewinne und bezog in seine Untersuchungen der Musik biogene, logogene und mimeogene Codierungselemente bzw. -schichten ein.25Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977, 2., überarbeitete Auflage 1982, 124–132. Er knüpfte damit an eine Tendenz an, die sich seit den 1960er Jahren in der tschechoslowakischen Musikforschung etabliert hatte: die Vorstellung nämlich, dass man „die gesamte Musikwissenschaft organisch und ‚gleichmäßig‘ entfalten“ und deshalb bisher vernachlässigte Fächer wie experimentelle Musikästhetik, Musiksoziologie, Musiksemiotik u. ä. verstärken sollte.26Jiří Fukác: Marxistische Musikforschung aus der tschechischen Sicht, in: Wolfgang Martin Stroh und Günter Mayer (Hg.): Musikwissenschaftlicher Paradigmenwechsel? Zum Stellenwert marxistischer Ansätze in der Musikforschung. Dokumentation einer internationalen Fachtagung vom 5.–7. November 1999 in Oldenburg, Oldenburg 2000, 72–76, 75. Dem Export dieser Bestrebungen diente ein „Internationales Seminar marxistischer Musikwissenschaftler“ 1963 in Prag,27Die Vorträge des II. Internationalen Seminar marxistischer Musikwissenschaftler sind in Heft 4 der Beiträge für die Musikwissenschaft 7 (1965) abgedruckt, darunter der Vortrag des tschechischen Musikwissenschaftlers Antonin Sychra mit dem Titel „Möglichkeiten der Anwendung der Kybernetik und der Informationstheorie in der marxistischen Musikwissenschaft“. Vom selben Autor ist in Heft 2 der Beiträge 12 (1970), 83–108, der Beitrag „Die Anwendung der Kybernetik und der Informationstheorie in der marxistischen Ästhetik“ erschienen. dem ähnliche Veranstaltungen in anderen sozialistischen Ländern folgten. Auch in der DDR gewannen nun die verschiedenen Disziplinen der systematischen Musikwissenschaft an Zulauf.28Michael Walter: Thesen zur Auswirkung der dreißiger Jahre auf die bundesdeutsche Nachkriegs-Musikwissenschaft, in: Isolde von Foerster, Christoph Hust und Christoph-Hellmut Mahling (Hg.): Musikforschung – Faschismus – Nationalsozialismus. Referate der Tagung Schloss Engers (8. bis 11. März 2000), Mainz 2001, 489–509, 502. Bei seinen Schülern regte Knepler die Nutzbarmachung kybernetischer und statistischer sowie semiotischer, kommunikations- und systemtheoretischer Methoden für die Musikforschung an. Insbesondere Reiner Kluge und Christian Kaden griffen diese Anregung mit entsprechenden Untersuchungen auf.

Eine Folge der szientistischen Bestrebungen der 1960er Jahre war eine euphorische Zukunftsplanung, die auch die Musikwissenschaft betraf. Auch hier war Georg Knepler die treibende Kraft. Schon Ende der 1950er Jahre hatte die Welle, Prinzipien der Planwirtschaft auf die wissenschaftliche Forschung zu übertragen, auch die Musikwissenschaft erfasst, und es entstanden in den folgenden Jahren verschiedene mehr oder weniger detailliert ausgearbeitete, sogenannte „Perspektivpläne“ für die künftige musikwissenschaftliche Forschung und Lehre. Nachdem bereits im Jahr 1960 ein solcher „Perspektivplan“ entstanden war, arbeitete 1963 im Auftrag des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen eine Gruppe von Musikwissenschaftlern und Funktionären unter Leitung des hallischen Lehrstuhlinhabers Walther Siegmund-Schultze erneut einen derartigen Plan aus. Anfang 1964 stellte das von Georg Knepler geleitete Musikwissenschaftliche Institut der Berliner Humboldt-Universität einen „Entwurf“ mit dem Titel Perspektiven der Musikwissenschaft in der DDR bis zum Jahre 2000 zur Diskussion.29Undatiertes hektographiertes Typoskript, 11 Bl., u. a. vorhanden in der SAPMO-Akte DY 30/84070. Begleitet wurde dies mit einem vom selben Institut am 27. November 1964 veranstalteten Symposion über „Aufgaben und Perspektiven der Musikwissenschaft in der DDR“.30Siehe den Bericht von Veit Ernst: Die Musikwissenschaft auf dem Bitterfelder Weg. Symposion des Musikwissenschaftlichen Institutes der Humboldt-Universität zu Berlin zu dem Thema „Aufgaben und Perspektiven der Musikwissenschaft in der DDR“, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 7 (1965), 67–69. In seinem Referat gab Knepler seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Musikwissenschaft eine utilitäre Funktion beim Aufbau des Sozialismus habe:

„Das Musikleben ist unter anderem auch ein Produktionszweig unseres sozialistischen Lebens. Milliarden werden umgesetzt und aufgewendet, um Musik zu produzieren und um sie an die Verbraucher heranzubringen. […] Wir sehen es als Aufgabe der Musikwissenschaft an, den staatlichen Leitungsorganen aller Ebenen unseres Musiklebens zu helfen, daß diese ungeheuren Mittel tatsächlich auch optimal in einer dem Bedarf unserer Gesellschaft angemessenen Weise verwendet und genutzt werden. Die Musikwissenschaft muß exakte Analysen, Untersuchungen und Forschungen anstellen, auf deren Ergebnissen dann eine wahrhaft wissenschaftliche Leitung unseres Musiklebens und die Festlegung seiner Perspektive basieren können.“31Georg Knepler: Aufgaben und Perspektive der Musikwissenschaft in der DDR, in: MuG 15 (1965), 236–239, 237.

In die Zeit der Planungseuphorie fallen auch Kneplers Vorschläge für ein an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin anzusiedelndes Forschungsinstitut, die er am 14. September 1964 einem Funktionär der ZK-Abteilung Wissenschaften übermittelte.32Georg Knepler: Brief an Werner Martin (ZK der SED, Abteilung Wissenschaften) vom 14. 9. 1964, SAPMO, DY 30/84070. Er schlug sieben Forschungsgebiete vor, die teilweise von mehreren Personen zu bearbeiten seien.33Näheres bei Lars Klingberg: Georg Knepler und die gescheiterten musikwissenschaftlichen Publikationsprojekte in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren, in: Jörg Rothkamm und Thomas Schipperges (Hg.): Musikwissenschaft und Vergangenheitspolitik. Forschung und Lehre im frühen Nachkriegsdeutschland, München 2015, 417–433, 422 f.

Der ebenfalls am Musikwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität tätige Heinz Alfred Brockhaus sah 1968 die Perspektive der Musikwissenschaft in der DDR in ihrer Funktionalisierung als „Leitungswissenschaft“. Sie müsse sich „aus ihrer traditionellen Haltung als überwiegend deskriptive, sammelnde und weitgehend historische Wissenschaft“ lösen und „zu einer Gesellschaftswissenschaft neuen Typs“ entwickeln, „die fähig ist, als Wissenschaft von der Leitung sozialer Prozesse zu fungieren“.34Heinz Alfred Brockhaus: Musikwissenschaft als Leitungswissenschaft, in: MuG 18 (1968), 746–754, 746. Brockhaus knüpfte dabei an die Worte Walter Ulbrichts auf der 5. Sitzung des Staatsrates am 30. November 1967 an. Der Partei- und Staatschef hatte dazu geraten, die ideologische Führungstätigkeit als Kernstück der Planung und Leitung kultureller Prozesse konsequent zu entwickeln. Auf der 13. Sitzung des Staatsrates am 18. Oktober 1968 berief sich Kulturminister Klaus Gysi auf diese Worte und plädierte dafür, die von Ulbricht geforderte Führungstätigkeit „im Zusammenhang mit dem geistigen Ringen im Kampf der beiden Weltsysteme“ zu sehen.35Die Kunst im Kampf für die sozialistische Gemeinschaft. Aus der Rede des Ministers für Kultur, Klaus Gysi, in: Neues Deutschland, Berliner Ausgabe, 23. Jg., Nr. 290 vom 19. 10. 1968, 3 f., 4.

Anmerkungen

  1. Siehe dazu Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erweiterte Neuausgabe, Leipzig 1996, 184 f.; auch erschienen als digitale Ausgabe (Berlin 2004, Digitale Bibliothek Sonderband) und als seitenidentische Lizenzausgabe (Berlin 2000).
  2. Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992, 239.
  3. Manfred Wekwerth: Diskussionsbeitrag auf der Plenartagung der Akademie der Künste vom 24. 10. 1985 („Funktion und Niveau der Unterhaltung in den Künsten“), Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Zentrales Akademiearchiv, 1683, Bl. 121.
  4. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erweiterte Neuausgabe, Leipzig 1996, 185; auch erschienen als digitale Ausgabe (Berlin 2004, Digitale Bibliothek Sonderband) und als seitenidentische Lizenzausgabe (Berlin 2000).
  5. Norbert Kapferer: Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945–1988, Darmstadt 1990, 216. Vgl. Guntolf Herzberg: Das Ende der DDR-Philosophie: Nachdenken, Distanz und Neubesinnung. Ein Überblick, in: ders.: Aufbruch und Abwicklung. Neue Studien zur Philosophie in der DDR, Berlin 2000, 114–221, 163.
  6. Gunnar Decker: 1965. Der kurze Sommer der DDR, München 2015; Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung Bonn 2015, 24.
  7. Heinz Liebscher: Fremd- oder Selbstregulation? Systemisches Denken in der DDR zwischen Wissenschaft und Ideologie, Münster 1995, 25.
  8. Gunnar Decker: 1965. Der kurze Sommer der DDR, München 2015; Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung Bonn 2015, 26.
  9. Heinz Liebscher: Fremd- oder Selbstregulation? Systemisches Denken in der DDR zwischen Wissenschaft und Ideologie, Münster 1995, 69.
  10. Grundfragen des geistigen Lebens im Sozialismus. Referat des Genossen Kurt Hager, Mitglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees, in: Neues Deutschland, Berliner Ausgabe, 24. Jg., Nr. 118 vom 30. April 1969, 3–8, 6.
  11. Heinz Liebscher: Fremd- oder Selbstregulation? Systemisches Denken in der DDR zwischen Wissenschaft und Ideologie, Münster 1995, 55.
  12. Guntolf Herzberg: Das Ende der DDR-Philosophie: Nachdenken, Distanz und Neubesinnung. Ein Überblick, in: ders.: Aufbruch und Abwicklung. Neue Studien zur Philosophie in der DDR, Berlin 2000, 114–221, 163.
  13. Peter Gudermuth und Werner Kriesel: Kybernetik und Weltanschauung. Probleme, Streitfragen und Ergebnisse der modernen Kybernetik, Leipzig u. a. 1973, 128.
  14. Peter Gudermuth und Werner Kriesel: Kybernetik und Weltanschauung. Probleme, Streitfragen und Ergebnisse der modernen Kybernetik, Leipzig u. a. 1973, 132.
  15. Kurt Hager: Erinnerungen, Leipzig 1996, 301 f.
  16. Hansjürgen Schaefer: Moderne Kunst – sozialistische Kunst. Gedanken nach der 11. Tagung des ZK der SED, in: MuG 16 (1966), 73–78 und 145–147, 147. Vgl. Michael Berg: Ambivalenzen eines noch nicht vollends geklärten Geschehens, in: ders., Albrecht von Massow und Nina Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, Köln u. a. 2004, 1–21, 13 f.
  17. Michael Berg: Ambivalenzen eines noch nicht vollends geklärten Geschehens, in: Michael Berg, Albrecht von Massow und Nina Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2004 (= KlangZeiten 1), 1–21, 12 f.
  18. Vgl. hierzu auch Emmerich, der hier insbesondere den Ästhetiker Horst Redeker anführt: „Für Redeker u. a. ist Widerspiegelung nicht mehr bloß stoffliche Mimesis, sondern (ästhetische) Widerholung strukturaler Prozesse der Wirklichkeit.“ Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erweiterte Neuausgabe, Leipzig 1996, 190; auch erschienen als digitale Ausgabe (Berlin 2004, Digitale Bibliothek Sonderband) und als seitenidentische Lizenzausgabe (Berlin 2000). Auch die Rolle des Rezipienten im Rahmen ästhetischer Prozesse ist hier gestärkt.
  19. Vgl. hierzu auch Nina Noeske: Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR, Köln u. a. 2007, 21 f.
  20. Alexander Abusch: Diskussionsbeitrag auf der Plenartagung am 28. 9. 1971 („Die Aufgaben der DAK nach dem VIII. Parteitag der SED im Zusammenhang mit der langfristigen Planung ihrer Arbeitsaufgaben“), Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Zentrales Akademiearchiv, 657, Bl. 85.
  21. Georg Knepler: Die Aufgaben der Musikwissenschaft, in: MuG 12 (1962), 642–644, 643.
  22. Georg Knepler: Mein Freund Harry, in: Hanns-Werner Heister (Hg.): Kunstwerk und Biographie. Gedenkschrift Harry Goldschmidt, Berlin 2000, 13–19, 13. Vgl. Gerhard Oberkofler und Manfred Mugrauer: Georg Knepler. Musikwissenschaftler und marxistischer Denker aus Wien, Innsbruck, Wien und Bozen 2014, 359.
  23. Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977, 2., überarbeitete Auflage 1982.
  24. Ebd., 21.
  25. Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977, 2., überarbeitete Auflage 1982, 124–132.
  26. Jiří Fukác: Marxistische Musikforschung aus der tschechischen Sicht, in: Wolfgang Martin Stroh und Günter Mayer (Hg.): Musikwissenschaftlicher Paradigmenwechsel? Zum Stellenwert marxistischer Ansätze in der Musikforschung. Dokumentation einer internationalen Fachtagung vom 5.–7. November 1999 in Oldenburg, Oldenburg 2000, 72–76, 75.
  27. Die Vorträge des II. Internationalen Seminar marxistischer Musikwissenschaftler sind in Heft 4 der Beiträge für die Musikwissenschaft 7 (1965) abgedruckt, darunter der Vortrag des tschechischen Musikwissenschaftlers Antonin Sychra mit dem Titel „Möglichkeiten der Anwendung der Kybernetik und der Informationstheorie in der marxistischen Musikwissenschaft“. Vom selben Autor ist in Heft 2 der Beiträge 12 (1970), 83–108, der Beitrag „Die Anwendung der Kybernetik und der Informationstheorie in der marxistischen Ästhetik“ erschienen.
  28. Michael Walter: Thesen zur Auswirkung der dreißiger Jahre auf die bundesdeutsche Nachkriegs-Musikwissenschaft, in: Isolde von Foerster, Christoph Hust und Christoph-Hellmut Mahling (Hg.): Musikforschung – Faschismus – Nationalsozialismus. Referate der Tagung Schloss Engers (8. bis 11. März 2000), Mainz 2001, 489–509, 502.
  29. Undatiertes hektographiertes Typoskript, 11 Bl., u. a. vorhanden in der SAPMO-Akte DY 30/84070.
  30. Siehe den Bericht von Veit Ernst: Die Musikwissenschaft auf dem Bitterfelder Weg. Symposion des Musikwissenschaftlichen Institutes der Humboldt-Universität zu Berlin zu dem Thema „Aufgaben und Perspektiven der Musikwissenschaft in der DDR“, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 7 (1965), 67–69.
  31. Georg Knepler: Aufgaben und Perspektive der Musikwissenschaft in der DDR, in: MuG 15 (1965), 236–239, 237.
  32. Georg Knepler: Brief an Werner Martin (ZK der SED, Abteilung Wissenschaften) vom 14. 9. 1964, SAPMO, DY 30/84070.
  33. Näheres bei Lars Klingberg: Georg Knepler und die gescheiterten musikwissenschaftlichen Publikationsprojekte in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren, in: Jörg Rothkamm und Thomas Schipperges (Hg.): Musikwissenschaft und Vergangenheitspolitik. Forschung und Lehre im frühen Nachkriegsdeutschland, München 2015, 417–433, 422 f.
  34. Heinz Alfred Brockhaus: Musikwissenschaft als Leitungswissenschaft, in: MuG 18 (1968), 746–754, 746.
  35. Die Kunst im Kampf für die sozialistische Gemeinschaft. Aus der Rede des Ministers für Kultur, Klaus Gysi, in: Neues Deutschland, Berliner Ausgabe, 23. Jg., Nr. 290 vom 19. 10. 1968, 3 f., 4.

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Erwähnt in

Kahlschlag-PlenumIn Berlin findet die 5. Sitzung des Staatsrates der DDR statt, auf der der Beschluss „Die Aufgaben der Kultur bei der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft“ gefasst wirdIn Berlin beginnt der VI. Parteitag der SED (15.–21. Januar 1963)RockmusikMusikgeschichtsschreibung, marxistische

Zitierempfehlung

Lars Klingberg, Nina Noeske (Mitarbeit), Artikel „Kybernetik/System“, in: Musikgeschichte Online, hg. von Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer, 2018ff. Stand vom 22.11.2022, online verfügbar unter https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/topics/kybernetik-system, zuletzt abgerufen am 25.09.2023.